Die Kreativwirtschaft ist tot, lang lebe die Kreativität!
«Le roi est mort, vive le roi» ist laut Wikipedia die Heroldsformel, mit der in Frankreich der Tod des alten Königs bekannt gegeben und gleichzeitig der neue ausgerufen wurde. Wie die Faust aufs Auge passt für mich darum die Abwandlung zum Titel dieses Blogbeitrags.
Dieser Blog-Beitrag erschien ursprünglich auf der Seite des Creative Hub am 28.1.2020.
Einiges hat sich seit der Schöpfung des Begriffes «Kreativwirtschaft» in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, oder der erstmaligen, empirischen Bestandsaufnahme dieses bis dahin wenig erforschten Wirtschaftszweiges in der Schweiz durch Christoph Weckerle und Michael Söndermann 2003 (1), getan und verändert. In ihrer Studie definierten Weckerle und Söndermann den Begriff «Kreativwirtschaft» damals folgendermassen:
« … fokussiert sich auf die Kreativbetriebe im privatwirtschaftlichen Sektor. Es sind dies Unternehmen, die sich auf erwerbswirtschaftlicher Basis mit der künstlerischen / kreativen Produktion, ihrer Vermittlung und / oder medialen Verbreitung von entsprechenden Gütern und Dienstleistungen befassen. In einer Auswahl von kulturbezogenen Wirtschaftszweigen werden daher die Branchengruppen «Musikwirtschaft», «Literatur-/ Buchmarkt», der «Kunstmarkt», die «Filmwirtschaft», die «Darstellende Kunst», die «Designwirtschaft» und die «Architektur» zur «Kreativwirtschaft im engeren Sinne» zusammengefasst. Diese Bereiche werden durch die «Kreativwirtschaft im weiteren Sinne» ergänzt. So sind Teile der Musikwirtschaft ohne Phonoindustrie nicht denkbar. Ebenso wird die Filmwirtschaft in hohem Masse durch TV-Produktionen und Rundfunkunternehmen beeinflusst. Die Kulturbetriebe im weiteren Sinne erbringen dabei lediglich in Teilen kulturrelevante Wirtschaftsaktivitäten. Aus wirtschaftlicher Sicht entspricht diese Segmentierung einer Branchenrealität.» (2)
Es war eine andere Zeit. Einerseits wurden sich die Kreativen ihres Einflusses, ihres Stellenwertes und ihres Beitrages an die Gesamtwirtschaft klarer und bewusster und gewannen dadurch an Selbstvertrauen. Andererseits entdeckte die Politik die Wertschöpfung, die durch die Kreativwirtschaft erbracht wurde. Weitere Studien zur Kreativwirtschaft wurden alsdann nicht nur in Zürich, sondern auch in Basel und weiteren Städten und Kantonen, sowohl in der Schweiz als auch international, angefertigt und publiziert und untermauerten auf verschiedenste Art und Weise deren Wichtigkeit.
Im dritten Zürcher Kreativwirtschaftsbericht (3) von Christoph Weckerle und Hubert Theler aus dem Jahre 2010 schliesslich etablierte sich der internationalen Entwicklung folgend der Begriff «Kreativindustrie», wobei ich bis dato keine schlüssige Erklärung gefunden habe, wie sich die Kreativwirtschaft von der Kreativindustrie unterscheidet. Ausser im Zeitgeist.
Was aber gleich blieb über all die Jahre und unter all den Begriffen ist, dass sich die Idee einer Gemeinschaft, einer Gruppe mit gleichen Merkmalen und Zielen die sich unter den Begriffen versteckt, in der Praxis nicht durchgesetzt hat. Zu unterschiedlich sind die Interessen und Bedürfnisse der zusammengefassten Branchengruppen und Akteure, zu heterogen deren Zusammensetzung und Tätigkeitsfelder. Dies zeigt sich nicht nur in den bis dato erfolglosen Versuchen der Schaffung einer gemeinsamen Stimme und einer gemeinsamen Agenda als Vertretung hin gegenüber der Politik, sondern auch in der Schwierigkeit der Schaffung geeigneter Förderinstrumente und Standards.
Was sich aber durchgesetzt hat ist die Tatsache, dass Kreativität in alle erfolgreichen Unternehmen hineinspielt, ja Grundlage dieser ist. Die Fähigkeit also, sich immer und immer wieder neu zu erfinden, neue Bedürfnisse von Konsumentinnen und Konsumenten zu erkennen und zu schaffen. Anders können Schweizer Unternehmen kaum bestehen in unserem hoch kompetitiven Wirtschaftsumfeld. Um über den Preis zu funktionieren, sind Schweizer Unternehmen von ihrer Kostenstruktur oft genug am oberen Ende der Skala. Wenn es aber um Innovation, Optimierung, Qualität und Zuverlässigkeit geht, dann spielt der Schweiz die dafür nötige Kreativität in die Hände. Egal ob in der Uhrenindustrie, im Maschinenbau, in der Elektrotechnik, im Industriedesign oder in der Lebensmittelbranche.
Verabschieden wir uns also von den Kunstbegriffen «Kreativwirtschaft» und «Kreativindustrie» und den damit verbundenen Zwängen und wenden wir uns hin zur allgemeinen Kreativität jeder Einzelnen, jedes Einzelnen. Weg von der Förderung von Branchen und Akteuren hin zur breitest möglichen Förderung der Kreativität, des kreativen Denkens, des kritischen Denkens von jüngsten Jahren an, angefangen im Kindergarten bis hin in die Unternehmungen. Denn eine weitere Auszeichnung der Kreativität ist, dass nicht abzusehen ist, woher sie kommt, was sie zu verändern vermag. Man denke bloss an die Schweizer Finanzbranche, ehemals einer der Kronjuwelen der Schweizer Wirtschaft, heute bloss noch reaktive und innovationsfreie Zone, die Bedürfnisse der Kunden ignorierend und bemüht darum, die eigenen Pfründe zu sichern. Oder die Tourismusbranche, früher internationaler Trendsetter, heute froh um Flugscham, die einige Schweizer Gäste lokal ihre Ferien verbringen lässt.
Polemisch, der letzte Absatz, ich gestehe es ein. Und er hilft trotzdem zu verdeutlichen, dass Kreativität nicht im exklusiven Besitz einiger mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelter Branchen und ihrer Akteure liegt, sondern zum Rüstzeug jeglichen wirtschaftlichen als auch gesellschaftlichen Schaffens und Handelns gehört. Und wenn ich die globalen Herausforderungen dazurechne wie Bekämpfung der Armut, Erhöhung der Bildung, Frauenrechte, Gesundheitsvorsorge, sauberes Wasser und gesunde Lebensmittel und Klimawandel, dann wird ultimativ klar, dass Kreativität eine der Schlüsselqualifikationen für die weitere, gerechte und globale Entwicklung der Menschheit ist.
Die Kreativwirtschaft ist tot, lang lebe die Kreativität!
(1) «Zweiter Zürcher Kreativwirtschaftsbericht»: Klaus, P.; Bentz, D.; Hofstetter, C. - 2008
(2) «Kreativwirtschaft Zürich Studie I: Der privatwirtschaftliche Teil des kulturellen Sektors im Kanton Zürich»: Weckerle, C.; Söndermann, M. - 2005
(3) «Dritter Kreativwirtschaftsbericht Zürich: Die Bedeutung der Kultur- und Kreativwirtschaft für den Standort Zürich»: Weckerle, C.; Theler, H. - 2010