Artikel 3: Die Angst vor dem Chefsein überwunden – und am Ende sogar die bessere Führungsperson?

Artikel: Die Angst vor dem Chefsein überwunden – und am Ende sogar die bessere Führungsperson?

Wer bei der Vorstellung, eine Führungsposition zu übernehmen, zunächst einmal kalte Füße bekommt, wird selten als natürliche Führungskraft gesehen. Stattdessen gelten oft jene als prädestinierte Führungspersonen, die sich voller Selbstvertrauen und Tatendrang an die Spitze setzen. Doch ist die Furchtlosigkeit tatsächlich ein Vorteil? Studien und Erfahrungen zeigen, dass Menschen, die ihre Angst vor dem Chefsein überwinden, langfristig sogar die besseren Führungskräfte sein können. Sie bringen Qualitäten in die Führung ein, die in einer Zeit von zunehmend komplexen Arbeitswelten besonders wertvoll sind. Der Artikel beleuchtet, warum Führungskräfte mit anfänglichen Zweifeln am Ende besser darin sind, Teams zu motivieren, Vertrauen zu schaffen und langfristige Erfolge zu sichern.

1. Warum Ängste die Qualität der Führung verändern

Die Angst vor dem Chefsein hat oft negative Konnotationen: Schwäche, Unsicherheit, mangelndes Durchsetzungsvermögen. Doch die Realität ist differenzierter. Während furchtlose Menschen schneller und intuitiver Entscheidungen treffen, gehen Menschen, die ihre Ängste bewusst reflektieren, oft durch einen tiefgehenden Prozess der Selbstreflexion. Diese Reflexion führt dazu, dass sie sich intensiv mit ihren eigenen Werten, Zielen und Grenzen auseinandersetzen.

Der Psychologe Adam Grant beschreibt dieses Phänomen als vulnerable leadership – Führung auf Basis der bewussten Auseinandersetzung mit den eigenen Schwächen. „Die Fähigkeit, die eigenen Unsicherheiten anzuerkennen, ist keine Schwäche, sondern eine Form der emotionalen Stärke“, so Grant (2016). Solche Führungskräfte entwickeln eine Authentizität, die es ihnen ermöglicht, auf Augenhöhe zu kommunizieren und ein echtes Vertrauensverhältnis zu ihren Mitarbeitern aufzubauen.

2. Die Vorteile einer durchlebten Führungsangst

Menschen, die Führungsangst überwunden haben, entwickeln besondere Führungsqualitäten, die bei klassischen „Alpha-Persönlichkeiten“ oft fehlen. Diese Qualitäten lassen sich in drei Hauptaspekte unterteilen:

a) Empathie und emotionale Sensibilität

Empathie ist eine der Schlüsselkompetenzen erfolgreicher Führung. Wer einmal selbst die Angst und den Zweifel durchlebt hat, fühlt sich stärker in die Perspektive anderer hinein. Statt die eigene Position als selbstverständlich zu sehen, haben diese Führungskräfte ein feines Gespür für die Ängste und Herausforderungen ihrer Teammitglieder. „Menschen folgen nicht der Person mit der größten Furchtlosigkeit, sondern derjenigen, die ihre eigenen Ängste anerkennt und wertschätzt“, schreibt Daniel Goleman, ein Pionier auf dem Gebiet der emotionalen Intelligenz (Goleman, 1995).

Dieses empathische Verhalten fördert Vertrauen und psychologische Sicherheit, was wiederum zu einem produktiveren und innovativeren Arbeitsumfeld führt (Edmondson, 1999). Mitarbeiter fühlen sich ermutigt, ihre Meinung zu äußern, auch wenn diese unpopulär ist, und Risiken einzugehen, ohne Angst vor Repressalien zu haben.

b) Demut und die Bereitschaft zu lernen

Menschen, die ihre Angst überwunden haben, wissen, dass sie nicht unfehlbar sind. Diese Erkenntnis führt zu einer Haltung der Demut, die es ihnen ermöglicht, Kritik anzunehmen und kontinuierlich zu lernen. Der Unterschied zu furchtlosen Führungskräften liegt in der Bereitschaft, andere Meinungen ernst zu nehmen und sich selbst infrage zu stellen. Solche Führungskräfte sind sich ihrer Grenzen bewusst und sind eher bereit, Expertise aus ihrem Team einzuholen, anstatt auf ihre eigene Autorität zu vertrauen.

Jim Collins, ein Experte für Unternehmensführung, nennt diese Eigenschaft Level-5-Leadership – die Kombination aus persönlicher Demut und professionellem Ehrgeiz. Laut Collins führen diese Führungskräfte ihre Organisationen nicht durch Macht, sondern durch Integrität und das Streben nach Exzellenz (Collins, 2001).

c) Authentizität und Vertrauenswürdigkeit

Menschen, die ihre Führungsangst überwunden haben, wirken authentisch. Sie sind keine unnahbaren Führungskräfte, die nur Macht ausüben, sondern sind durch ihre Verletzlichkeit nahbar und vertrauenswürdig. Authentizität erzeugt ein Gefühl der Nähe, das es ermöglicht, Beziehungen zu Mitarbeitern aufzubauen, die über die reine Funktionsebene hinausgehen. Dieses Vertrauen ist die Grundlage für eine langfristige, loyale Zusammenarbeit.

Eine Metaanalyse von Gallup (2013) zeigte, dass die produktivsten Teams jene sind, in denen Mitarbeiter ihren Führungskräften vertrauen. Vertrauen fördert Engagement, reduziert Fluktuation und verbessert die allgemeine Arbeitsmoral. Führungskräfte, die ihre eigenen Ängste und Unsicherheiten nicht verstecken, sondern transparent damit umgehen, schaffen genau diese Kultur des Vertrauens.

3. Vom Zweifel zur Stärke: Die Psychologie hinter erfolgreicher Führung

Führungskräfte, die ihre Angst vor dem Chefsein überwinden, durchlaufen oft einen persönlichen Entwicklungsprozess, der sie nachhaltig prägt. Psychologisch gesehen durchlaufen sie eine sogenannte Transformative Lernerfahrung (Mezirow, 1991). Sie entwickeln ein neues Selbstverständnis, das auf Resilienz und Authentizität basiert. Während furchtlose Führungskräfte oft dazu neigen, aus einem Gefühl der Überlegenheit heraus zu agieren, führen reflektierte Führungskräfte aus einer Haltung des Dienens.

Die Fähigkeit, eigene Ängste und Unsicherheiten zu transformieren, ist ein Zeichen emotionaler Resilienz. Diese Resilienz macht sie besonders anpassungsfähig in schwierigen Situationen. Ein aktuelles Beispiel ist Satya Nadella, CEO von Microsoft, der seine anfänglichen Zweifel und Unsicherheiten öffentlich thematisierte und Microsoft zu einer Kultur der Offenheit und Innovation führte. Nadella sagt selbst: „Es geht nicht darum, der klügste Mensch im Raum zu sein, sondern darum, den anderen zu helfen, ihr Bestes zu geben.“

4. Langfristiger Erfolg durch nachhaltige Führungsprinzipien

Führungskräfte, die ihre Führungsangst überwunden haben, bringen langfristig nachhaltige Führungsprinzipien in die Praxis ein. Sie neigen weniger zu impulsiven Entscheidungen, setzen auf langfristige Beziehungsarbeit und sind weniger geneigt, Machtkämpfe auszutragen. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die Entwicklung ihres Teams und den Aufbau einer positiven, unterstützenden Kultur.

Ein Beispiel dafür ist die „Servant Leadership“-Philosophie, die von Robert K. Greenleaf (1970) formuliert wurde. Führungskräfte, die sich als „Diener des Teams“ verstehen, schaffen ein Umfeld, in dem der gemeinsame Erfolg im Vordergrund steht. Sie sehen ihre Hauptaufgabe darin, andere zu unterstützen, anstatt ihre eigene Macht auszubauen. Greenleafs Forschung zeigt, dass solche Führungskräfte eine höhere Mitarbeiterzufriedenheit und eine geringere Fluktuation aufweisen.

5. Fazit: Die Angst als Sprungbrett zu außergewöhnlicher Führung

Die Angst vor dem Chefsein mag auf den ersten Blick wie eine Schwäche erscheinen, doch in Wahrheit ist sie oft der erste Schritt zu einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit der eigenen Identität als Führungskraft. Wer diese Angst überwindet, entwickelt eine Form von Führung, die auf Empathie, Authentizität und Demut basiert – Qualitäten, die in der heutigen Arbeitswelt unverzichtbar sind.

„Der Mut, sich der eigenen Angst zu stellen, ist es, was aus einem Zweifler eine außergewöhnliche Führungspersönlichkeit macht,“ schreibt der Psychologe und Führungsexperte Brene Brown (2018). Am Ende sind es nicht die Furchtlosen, sondern die Reflektierten, die die besten Voraussetzungen für eine moderne, nachhaltige und menschliche Führung mitbringen.

Daniel FreiKommentieren