Angst vor dem Chefsein: Wenn Führung Bürde ist

Führungspositionen gelten gemeinhin als begehrenswert: Prestige, Einfluss und ein Gefühl von Erfolg sind die verlockenden Versprechen. Doch viele Menschen verspüren anstelle von Motivation und Vorfreude Unbehagen, Unsicherheit oder sogar Angst. Diese sogenannte Führungsangst ist ein weitverbreitetes Phänomen, das sich in Selbstzweifeln, Entscheidungsaufschub und Rückzug von Führungsaufgaben manifestiert. Ursachen sind negative Erfahrungen mit Autoritätspersonen, Perfektionismus, Geschlechtsrollenstereotype und die Angst vor Sichtbarkeit. Doch welche Dynamiken stecken hinter der Furcht, Chef zu sein? Und wie lässt sich diese Angst überwinden?

Nicht jedeR ist gerne Königspinguin. Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Die Aussicht auf eine Führungsposition sollte eigentlich motivierend sein. Meinte man. Sie wird mit Prestige, beruflichem Aufstieg, Einfluss, einem Gefühl von Erfolg verbunden. Doch viele Menschen verspüren stattdessen Unbehagen, Unsicherheit, bare Angst. Die sogenannte Führungsangst – die Angst vor der Übernahme von Führungsverantwortung – ist ein weitverbreitetes Phänomen. Aber warum fürchten sich Menschen davor, Chef zu sein? Welche Ursachen und Ausdrucksformen hat diese Angst?

Was ist Führungsangst?

Führungsangst beschreibt die Abneigung oder Furcht davor, eine Führungsrolle zu übernehmen und die damit verbundene Verantwortung und Sichtbarkeit zu tragen. Sie äussert sich in Unsicherheit, Aufschieben von Entscheidungen und dem bewussten oder unbewussten Vermeiden von Führungsaufgaben. Menschen mit Führungsangst zeigen oft die Symptome des sogenannten Impostor-Syndroms (Hochstapler-Syndrom). Sie glauben, ihre Führungsposition nicht verdient zu haben und jederzeit entlarvt werden zu können (Clance & Imes, 1978). Insbesondere Frauen und junge Führungskräfte berichten häufig von solchen Selbstzweifeln.

Ein typisches Beispiel für Führungsangst zeigt sich, wenn Menschen sich gezielt aus Führungsaufgaben zurückziehen, wenngleich sie objektiv qualifiziert sind. Der innere Monolog, der mit Führungsangst verbunden ist, klingt oft wie: «Was, wenn ich eine falsche Entscheidung treffe?», «Was, wenn ich andere enttäusche?», «Was, wenn ich nicht gut genug bin?» Diese Ängste blockieren nicht nur die Karriereentwicklung, sondern führen auch zu starkem Stress und emotionalem Rückzug.

Ursachen der Führungsangst

Die Ursachen der Angst vor der Übernahme von Führung lassen sich auf verschiedene Ebenen zurückführen: individuelle, gesellschaftliche und organisationale. Ein komplexes Zusammenspiel von Persönlichkeitsmerkmalen, früheren Erfahrungen und gesellschaftlichen Rollenbildern formt die Einstellung gegenüber Führung.

Negative Erfahrungen mit Autoritätspersonen

Eine zentrale Ursache für Führungsangst sind negative Kindheits- oder Jugenderfahrungen mit autoritären Personen – sei es ein strenger Elternteil, einE LehrerIn oder eine frühe Führungsperson. Wenn Führung als unnachgiebig, emotionslos, kontrollierend oder gar brutal und erratisch erlebt wurde, entsteht eine negative Verknüpfung: Führung wird mit Machtmissbrauch, statt mit positiver Einflussnahme und Gestaltung verbunden (Kets de Vries, 1989). Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben, entwickeln ein ambivalentes Verhältnis zur Autorität: Sie misstrauen ihr und möchten vermeiden, selbst in einer ähnlichen Rolle wahrgenommen zu werden.

Perfektionismus und hohe Selbstansprüche

Und auch perfektionistische Menschen haben oft Angst, in Führungspositionen den eigenen Erwartungen nicht gerecht zu werden. Sie stellen überhöhte Ansprüche an ihre Leistung und befürchten, ihre Fehler könnten schwerwiegendere Konsequenzen haben, wenn sie in einer verantwortungsvollen Position sind. Diese Angst führt häufig dazu, dass sie Führungsaufgaben vermeiden und sich stattdessen auf vermeintlich «sicherere» Aufgaben konzentrieren (Stoeber, 2012).

Geschlechtsrollenstereotype und soziale Erwartungen

Geschlechtsrollenstereotype tragen ebenfalls nach wie vor massgeblich zur Entstehung von Führungsangst bei. Studien zeigen, dass Frauen und Männer in Führung unterschiedlich wahrgenommen werden. Während Männer oft als «durchsetzungsstark» gelten, werden Frauen bei gleichen Verhaltensweisen oft «Dominanz» oder sogar «Unweiblichkeit», aka «was für ein Mannsbild», vorgeworfen (Eagly & Karau, 2002). Diese Rollenkonflikte erzeugen bei Frauen eine innere Spannung: Führungsverhalten scheint im Widerspruch zu traditionellen weiblichen Tugenden zu stehen. Und auch Männer sind nicht frei von Rollenkonflikten, insbesondere wenn sie in traditionell «weiblichen» Branchen (wie Erziehung oder Pflege) Führungsrollen übernehmen wollen.

Angst vor Sichtbarkeit und öffentlicher Verantwortung

Die Angst vor der Übernahme von Führungsverantwortung ist eng mit der Furcht vor öffentlicher Sichtbarkeit verbunden. Führungskräfte stehen im Rampenlicht, werden an ihren Entscheidungen gemessen und müssen sich für ihre Handlungen rechtfertigen. Diese «Angst vor Sichtbarkeit» (Englisch: Fear of Being Seen) führt dazu, dass Menschen sich lieber in der zweiten Reihe halten, als in den Mittelpunkt zu treten. Studien zeigen, dass gerade introvertierte Menschen anfällig für diese Form der Angst sind (Cain, 2012).

Und wie zeigt sich Führungsangst?

Führungsangst manifestiert sich auf vielfältige Weise im Verhalten. Die folgenden typischen Muster lassen sich bei Betroffenen beobachten:

Vermeidungsverhalten

Menschen mit Führungsangst meiden gezielt Situationen, in denen sie Entscheidungen alleine treffen oder Verantwortung übernehmen müssen. Sie zögern, Beförderungen anzunehmen und delegieren Führungsaufgaben an andere. Dieses Verhalten zeigt sich häufig in Aussagen wie «Ich habe einfach keine Lust auf diesen zusätzlichen Stress» oder «Mir liegt es besser, im Hintergrund zu arbeiten».

Perfektionismus und Detailverliebtheit

Ein weiteres typisches Muster ist die Konzentration auf Details anstatt auf strategische Entscheidungen. Führungskräfte mit Führungsangst verbeissen sich oft in operativen Aufgaben und versuchen, jede Eventualität zu kontrollieren (Micromanagement). Dies wird als eine Form von Selbstsabotage beschrieben: Die Überbetonung von Details verhindert, dass sie das grosse Ganze im Auge behalten und als Führungsperson wahrgenommen werden.

Passiv-aggressives Verhalten gegenüber bestehenden Führungskräften

Ein subtiler, aber häufig beobachteter Ausdruck von Führungsangst ist das passiv-aggressive Untergraben von Autoritäten. Menschen, die selbst Angst vor Führung haben, kritisieren oft die Führungskompetenz anderer, stellen deren Entscheidungen infrage und treten als Gegengewicht auf. Eine Studie von Hogan und Kaiser (2005) zeigt, dass diese Haltung oft auf einen unbewussten Wunsch nach Führung zurückzuführen ist, der durch Selbstzweifel blockiert wird.

Die Psychologie hinter Autoritätsproblemen: Unbewusster Führungswunsch?

Ein besonders interessanter Aspekt im Zusammenhang mit Führungsangst ist die Hypothese, dass viele Menschen, die Probleme mit Autoritäten haben, eigentlich selbst unbewusst den Wunsch nach der Führungsposition hegen. Psychodynamische Ansätze gehen davon aus, dass Menschen ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse auf andere projizieren, wenn sie diese nicht ausleben können (Freud, 1923). So kann sich ein unbewusster Führungsanspruch in einer latenten Ablehnung gegenüber bestehenden Autoritäten äussern.

Menschen, die autoritätsskeptisch sind, reagieren häufig besonders empfindlich auf die Fehler von Vorgesetzten und nehmen diese als persönliche Kränkungen wahr. Der innerliche Dialog könnte so aussehen: «Wäre ich in dieser Position, würde ich das anders und besser machen.» Doch gleichzeitig halten sie sich selbst für unfähig oder unwürdig, diese Position einzunehmen. Diese Ambivalenz zwischen Führenwollen und Führungsangst führt zu einem inneren Konflikt, der sich in passivem Widerstand oder übermässiger Kritik äussert.

Führungsangst: Ein komplexes Zusammenspiel von Ursachen und Ausdrucksformen

Führungsangst ist ein komplexes Phänomen, das sich nicht nur auf individuelle Persönlichkeitsmerkmale reduzieren lässt. Sie ist das Ergebnis eines Zusammenspiels von negativen Erfahrungen, sozialen Erwartungen, psychologischen Schutzmechanismen und organisationalen Rahmenbedingungen. Ein besseres Verständnis dieser Dynamiken ist nicht nur für die persönliche Entwicklung von Führungskräften entscheidend, sondern auch für Organisationen, die sich auf die Förderung gesunder und effektiver Führungsstrukturen konzentrieren möchten.»