Warum vernachlässigen wir unsere mentale Gesundheit?

MentalMarch – Prélude

Prävention und Schutz geniessen einen hohen Stellenwert in Bezug auf physische Gesundheit und Sicherheit. Bleibt die mentale Gesundheit oft ein vernachlässigtes Gebiet? Trotz wachsender Erkenntnisse über die Bedeutung psychologischen Wohlbefindens wird die mentale Gesundheit nicht mit derselben Dringlichkeit oder demselben Engagement behandelt wie die physische Gesundheit. In diesem Text, der Prélude zum MentalMarch, untersuche ich die Gründe, warum wir unserer mentalen Gesundheit so wenig Sorge tragen.

Tragen wir unserer mentalen Gesundheit zu wenig Sorge? Illustration: Daniel Frei

Daniel Frei – Historisch gesehen ist die mentale Gesundheit mit Stigma und Missverständnissen behaftet. Psychische Erkrankungen werden oft als Zeichen von Schwäche oder als spirituelle Strafen angesehen. Diese tief verwurzelten Vorurteile haben eine Kultur des Schweigens und der Scham geschaffen, die viele davon abhält, Hilfe zu suchen oder ihre mentalen Kämpfe offen zu besprechen. Überdies fördern viele Kulturen eine «Härte» oder Selbstständigkeit, die das Eingeständnis von psychischen Problemen als Mangel an Charakterstärke betrachtet. Diese kulturellen Narrative verstärken die Idee, dass mentale Gesundheit ein privates Problem oder sogar eine persönliche Fehlleistung ist, und nicht eine Frage der allgemeinen Gesundheit.

Bildung und Aufklärung

MentalMarch: 31 Tage für die mentale Gesundheit.

Mentale Gesundheit wird selten mit derselben Intensität oder demselben Detailgrad wie physische Gesundheit in Schulen gelehrt. Fächer wie Sport, Werken oder Sprachen sind fest im Lehrplan verankert, während mentale Gesundheit, wenn überhaupt, nur am Rande behandelt wird. Diese Bildungslücke hinterlässt Generationen von Menschen ohne die notwendigen Werkzeuge, Sprache oder das Verständnis, um ihre eigene psychische Gesundheit effektiv zu managen oder zu verstehen.

Laut einem WHO-Bericht über das Gesundheitsverhalten von 11–15-Jährigen in der europäischen Region zeigt sich eine zunehmende Besorgnis über psychische Probleme unter Jugendlichen. Schulen werden als zentrale Orte für die Förderung der psychischen Gesundheit hervorgehoben, da sie oft die erste Anlaufstelle für Jugendliche mit psychischen Problemen sind. Programme, die in Schulen zur Förderung der psychischen Gesundheit und Prävention eingeführt werden, zeigen die beste Investitionsrendite in Bezug auf die Verbesserung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen​​​​.

Der Bericht unterstreicht, dass psychische Probleme wie Niedergeschlagenheit, Nervosität oder Reizbarkeit bei Jugendlichen zunehmen. Es wird betont, dass frühzeitige Interventionen, insbesondere in Bildungseinrichtungen, essenziell sind, um diese Probleme anzugehen und zu verhindern, dass sie sich zu ernsthaften psychischen Erkrankungen entwickeln. Zudem wird die Bedeutung von Zugang zu zielgerichteten Angeboten der psychischen Gesundheitsversorgung für Jugendliche hervorgehoben, um gesundheitliche, soziale und ökonomische Vorteile für die Gesellschaft zu erzielen​​.

Arbeitsumfeld

Im Arbeitsumfeld wird Leistung oft über Wohlbefinden gestellt. Lange Arbeitszeiten, hoher Druck und geringe Unterstützung in Bezug auf mentale Gesundheit sind in vielen Branchen die Norm. Obwohl sich dies langsam ändert, gibt es immer noch eine weitverbreitete Erwartung, dass Mitarbeiter:innen ihre persönlichen Probleme «an der Tür abgeben» sollen. Dies schafft eine Umgebung, in der mentales Wohlbefinden als sekundär angesehen wird oder gar als Störung der Produktivität.

In der Schweiz gibt es verschiedene Initiativen zur Förderung der mentalen Gesundheit am Arbeitsplatz, sowohl auf staatlicher als auch auf privater Ebene. Die Schweizer Arbeitskultur legt grossen Wert auf eine ausgewogene Work-Life-Balance, was wesentlich zum allgemeinen Wohlbefinden der Beschäftigten beiträgt. Es gibt Massnahmen wie flexible Arbeitsmodelle, klare Arbeitszeitregelungen und Pausen, die dazu beitragen sollen, Überarbeitung zu vermeiden und das allgemeine Wohlbefinden zu fördern. Überdies werden Urlaubs- und Freizeitgestaltung sowie betriebliche Gesundheitsförderung mit Angeboten wie Stressmanagementkursen, Fitnessangeboten und Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen unterstützt​​.

Des Weiteren bietet der Kanton Zürich Ressourcen und Unterstützungsmöglichkeiten an, um die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu fördern. Dazu gehört etwa eine Broschüre, die Arbeitnehmenden Informationen und Tipps gibt, wie sie ihre psychische Gesundheit am Arbeitsplatz schützen können​​.

Diese Beispiele zeigen, dass in der Schweiz ein Bewusstsein für die Bedeutung der mentalen Gesundheit am Arbeitsplatz vorhanden ist und sowohl von staatlichen als auch von privaten Organisationen Initiativen ergriffen werden, um die Arbeitsumgebungen gesünder zu gestalten.

Kanton Zürich – Prävention und Gesundheitsförderung – Downloads

Medizinischer und psychologischer Zugang

Medizinisch gesehen ist die Behandlung psychischer Gesundheitsprobleme oft weniger zugänglich und erschwinglich als die Behandlung physischer Erkrankungen. Lange Wartezeiten für Therapien, hohe Kosten und eine unzureichende Versicherungsdeckung sind nur einige der Barrieren. Zudem gibt es eine Tendenz, psychische Probleme zu medikamentieren, ohne die zugrundeliegenden Ursachen oder das Gesamtbild der Lebensumstände des Einzelnen zu betrachten.

Spirituelle und philosophische Dimensionen

Auf einer spirituellen und philosophischen Ebene wird mentale Gesundheit oft von der Suche nach Bedeutung und Zweck getrennt betrachtet. In einer Welt, die stark auf materiellen Erfolg und sichtbare Leistungen ausgerichtet ist, werden innere Werte und persönliches Wachstum häufig unterbewertet. Diese Dissonanz zwischen äusseren Erwartungen und inneren Bedürfnissen kann zu einer Vernachlässigung der mentalen Gesundheit führen.

Die Vernachlässigung der mentalen Gesundheit ist ein komplexes Phänomen, das in tief verwurzelten kulturellen, bildungstechnischen, arbeitsbedingten und philosophischen Normen verankert ist. Um diese Vernachlässigung zu überwinden, bedarf es eines umfassenden Ansatzes: von der Entstigmatisierung und Bildung über die Schaffung unterstützender Arbeitsumgebungen bis hin zur Förderung eines ganzheitlichen Verständnisses von Wohlbefinden, das sowohl die physische als auch die mentale Gesundheit umfasst. Es ist an der Zeit, dass wir mentale Gesundheit als integralen Bestandteil unserer Gesamtwellness betrachten und Massnahmen ergreifen, um sie mit der gleichen Ernsthaftigkeit und dem gleichen Engagement zu schützen und zu fördern, wie wir es bei unserer physischen Gesundheit tun. Nur durch eine solche Veränderung unserer Perspektive und unserer Praktiken können wir hoffen, ein Umfeld zu schaffen, in dem alle Menschen die Unterstützung und Ressourcen finden, die sie benötigen, um mental zu gedeihen.