Warum erkranken manche Menschen an CPTSD und andere nicht?
Warum entwickeln manche Menschen eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung (CPTSD), während andere trotz ähnlicher Belastungen stabil bleiben? Die Antwort mag in einem Zusammenspiel aus traumatischen Erlebnissen, Veränderungen im Gehirn und epigenetischen Prozessen liegen. Studien zeigen, wie Trauma die Struktur des Gehirns verändert und sogar an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Gleichzeitig spielen Schutzfaktoren wie stabile Beziehungen und Resilienz eine zentrale Rolle.
Studien zeigen, wie Trauma die Struktur des Gehirns verändert und sogar an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Illustration: @yuda.aiii
Daniel Frei – Warum entwickeln manche Menschen nach schweren Traumata eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung (CPTSD), während andere scheinbar unversehrt bleiben? Diese Frage beschäftigt Forscherinnen und Forscher seit Jahrzehnten.
Die Antwort kann in einem Zusammenspiel von individuellen Erfahrungen, genetischer Prädisposition, neurobiologischen Mechanismen und epigenetischen Prozessen liegen. Auch die Auswirkungen auf das Gehirn und die Möglichkeit der transgenerationalen Weitergabe spielen eine wichtige Rolle.
Ursachen und Risikofaktoren: Ein Netz aus Belastungen
CPTSD entsteht meist durch wiederholte oder lang anhaltende traumatische Erlebnisse, die Betroffene ohne Schutz oder Unterstützung durchleben mussten. Solche Erlebnisse umfassen:
Kindesmissbrauch: Physischer, sexueller oder emotionaler Missbrauch in der Kindheit.
Vernachlässigung: das Fehlen von emotionaler Nähe, Fürsorge oder Schutz.
Häusliche Gewalt: Wiederholte Gewalterfahrungen in intimen Beziehungen.
Krieg, Flucht und Folter: anhaltende Lebensbedrohung und Ohnmacht.
Systematische Unterdrückung: Diskriminierung, Ausbeutung oder Inhaftierung.
Die Wahrscheinlichkeit, an CPTSD zu erkranken, steigt mit der Dauer und Intensität der traumatischen Belastung sowie der Abwesenheit von schützenden Faktoren wie emotionaler Unterstützung, sicheren Bindungen oder späterem Zugang zu Therapie.
Neurobiologie von CPTSD: Wie Traumata das Gehirn verändern
Traumatische Erlebnisse hinterlassen nicht nur seelische, sondern auch physische Spuren im Gehirn. Studien zeigen, dass drei Hirnregionen bei Menschen mit CPTSD besonders betroffen sind:
Amygdala: Das «Alarmzentrum» des Gehirns ist bei Betroffenen oft überaktiv, was zu erhöhter Wachsamkeit und einer dauerhaften Stressreaktion führt.
Hippocampus: Diese Region, die für das Erinnern und Verarbeiten von Erlebnissen zuständig ist, zeigt häufig eine reduzierte Aktivität. Dies kann dazu führen, dass traumatische Erinnerungen unvollständig oder verzerrt verarbeitet werden und Flashbacks begünstigen.
Präfrontaler Cortex: Diese Region, die für die Regulation von Emotionen und Impulsen zuständig ist, ist bei Menschen mit CPTSD oft weniger aktiv, was emotionale Dysregulation und Impulsivität verstärkt.
Trauma bewirkt, dass das Gehirn in einen dauerhaften «Überlebensmodus» versetzt wird. Betroffene befinden sich häufig in einem Zustand ständiger Bedrohung, obwohl keine reale Gefahr besteht. Dieser Zustand kann das Leben tiefgreifend beeinträchtigen und die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen oder sich sicher zu fühlen, erschweren.
Epigenetik: Die transgenerationale Weitergabe von Trauma
Neben den direkten neurobiologischen Veränderungen spielt die Epigenetik eine bedeutende Rolle bei der Erklärung, warum manche Menschen anfälliger für CPTSD sind. Epigenetik beschreibt die Mechanismen, durch die Umwelteinflüsse – wie Traumata – die Aktivität von Genen beeinflussen können, ohne die DNA-Sequenz selbst zu verändern. Diese Veränderungen können an die nächste Generation weitergegeben werden.
Studien an Nachkommen von Holocaust-Überlebenden und Menschen, die in Kriegsgebieten aufgewachsen sind, zeigen, dass Kinder und Enkelkinder von traumatisierten Personen ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen haben können. Dies geschieht oft durch epigenetische Veränderungen, die die Stressreaktion des Körpers beeinflussen. Wie eine Forscherin erklärt: «Trauma prägt nicht nur die Betroffenen, sondern kann auch ihre Nachkommen für erhöhte Stressanfälligkeit sensibilisieren.»
Schutzfaktoren: Warum nicht alle Betroffenen erkranken
Nicht alle Menschen, die traumatischen Belastungen ausgesetzt sind, entwickeln CPTSD. Schutzfaktoren spielen eine entscheidende Rolle dabei, die Auswirkungen von Trauma abzufedern.
Stabile Bindungen: Emotionale Unterstützung durch Bezugspersonen kann die Resilienz stärken.
Positive Erfahrungen in anderen Lebensbereichen: Auch wenn ein Bereich des Lebens belastend ist, können erfüllende soziale Beziehungen oder berufliche Erfolge schützend wirken.
Persönliche Resilienz: Individuelle Fähigkeiten wie Problemlösungsstrategien, Optimismus oder die Fähigkeit, mit Stress umzugehen, können das Risiko reduzieren.
Diese Schutzfaktoren sind der Schlüssel, um die Auswirkungen von Trauma abzumildern und die Heilung zu fördern.
Wie sich Verständnis und Therapie weiterentwickeln
Das wachsende Wissen über die neurobiologischen und epigenetischen Mechanismen hinter CPTSD hat die Therapieansätze verändert. Neue Behandlungsformen wie körperorientierte Therapien (z. B. Somatic Experiencing) oder Ansätze, die die Neuroplastizität des Gehirns nutzen, helfen Betroffenen, ihr Gehirn buchstäblich neu zu «verdrahten».
Dr. Bessel van der Kolk, ein führender Experte in der Traumaforschung, dazu: «Das Verständnis der biochemischen und strukturellen Auswirkungen von Trauma ist der Schlüssel, um die richtigen Werkzeuge zur Heilung bereitzustellen. Das Gehirn ist formbar, und Heilung ist möglich.»
Hoffnung auf Heilung und Generationen von Resilienz
Obwohl CPTSD tiefgreifende Spuren hinterlässt, gibt es Hoffnung: Die Plastizität des Gehirns und die Fähigkeit des Menschen, Resilienz zu entwickeln, ermöglichen Heilung. Gleichzeitig bietet die Forschung zur Epigenetik die Chance, künftige Generationen besser vor den Auswirkungen von Trauma zu schützen. Der Schlüssel liegt in einer Mischung aus Verständnis, Unterstützung und gezielter Therapie.
Quellen
Van der Kolk, B. (2014). The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma.
Yehuda, R. et al. (2014). «Transgenerational Effects of Trauma: Epigenetic Mechanisms». Biological Psychiatry.
Herman, J. (1992). Trauma and Recovery: The Aftermath of Violence–From Domestic Abuse to Political Terror.
World Health Organization (WHO): International Classification of Diseases (ICD-11).