Erdrückt uns unser Wohlstand?

Wir leben in Häusern voller Dinge, in Köpfen voller Lärm. Die Schweiz ist eines der wohlhabendsten Länder, und vielleicht auch eines der erschöpftesten. Wohlstand war einmal ein Versprechen. Heute wirkt er zunehmend wie eine Last, die wir kaum noch tragen können.

Sicherheit wird zum Fetisch, der immer mehr kostet, aber nie sattmacht. Fotografie: Daniel Frei

Sicherheit wird zum Fetisch, der immer mehr kostet, aber nie sattmacht. Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Das vollgestopfte Leben. Wir besitzen mehr, als wir je besitzen wollten. Und mehr, als wir tragen können. Unsere Wohnungen sind zu Schachbrettmustern aus Dingen geworden, die wir nicht mehr sehen, geschweige denn benutzen. Wer keinen Platz mehr hat, mietet zusätzliche Self-Storage-Boxen, Mini-Depots, Kellerabteile. Ein wachsender Wirtschaftszweig, geboren aus Überfluss. Wir lagern unser altes Leben ein, weil wir unfähig sind, uns davon zu trennen. Wir heben alles auf, für spätere Bedürfnisse, die niemals kommen. Oder wir werden zu Secondhand-Einzelhändlern und nutzen Plattform um Plattform, um unser Zuviel zu rekommerzialisieren.

Wohlstand sollte uns erleichtern. Aber er beschwert uns eigentlich. Jede Anschaffung ist eine Entscheidung, jede Entscheidung eine Verpflichtung, jede Verpflichtung ein Gewicht. Ein Gegenstand genügt nicht. Er braucht Pflege, Aufbewahrung, Versicherung. Wir lieben Absicherung. Dreifach versichert, vierfach geschützt und doch innerlich brüchig. Wohlstand ist nicht nur Besitz. Er ist Verwaltung. Ein Dauerdienst.

Die Ermüdung der gesättigten Gesellschaft

Wir sind müde. Nicht physisch, sondern moralisch. Müde vom Zuviel. Müde vom permanenten Vergleich. Müde von den Erwartungen einer Kultur, die Erfolg misst, indem sie summiert und präsentiert. Eine Generation wächst heran, die sich weigert, mitzumachen. Junge Menschen, die sich Konsum verweigern, Social Media meiden, nur das Nötigste kaufen, minimalistischer leben, um nicht auszubrennen an einem System, das nie genug hat.

Wohlstand hat uns nie gelehrt, wie man genug sagt. Weil «genug» im Wohlstandsparadigma ein Verdacht ist. Ein Verdacht auf Faulheit. Auf mangelnde Ambition. Auf Rückschritt. Dabei ist genug der Massstab mündiger. Und ein Zeichen von Selbstschutz. Der Überdruss, den wir heute sehen, ist das logische Ende einer Gesellschaft, die immer weiter wachsen wollte, obwohl ihre Bedürfnisse längst gestillt waren.

Der Verlust der Leere

Wir haben verlernt, was Leere bedeutet. Und warum wir sie brauchen. In Wohnungen ohne Lücken, in Terminkalendern ohne Pausen und in Leben ohne Stille schrumpft der Raum für uns selbst. Einsamkeit entsteht nicht, weil Menschen fehlen, sondern weil Gelegenheiten fehlen, in denen wir uns unverstellt zeigen. Die Zunahme psychischer Erkrankungen ist kein Zufall. Ist sie Ausdruck einer Gesellschaft, die sich selbst verdichtet hat, bis sie kaum mehr Luft bekommt?

Wohlstand isoliert uns. Was einst Verbundenheit versprach, erzeugt Distanz. Das eigene Haus, der eigene Garten, das eigene Auto, das eigene Konto, der eigene Bildschirm. Privileg und Problem in einem. Die Komfortzone ist kein Schutzraum mehr, sondern ein Rückzugslager. Und je komfortabler das Lager, desto kleiner die Welt.

Die materialisierte Angst

Je mehr wir haben, desto mehr können wir verlieren. Binsenwahrheit, aber wahr. Wohlstand erzeugt Angst. Verlustangst, Statusangst, Zukunftsangst. Die Dinge, die uns sichern sollen, halten uns fest. Sie binden uns an Lebensmodelle, die wir längst hinterfragen, aber nicht verlassen. Wer eine Existenz aufgebaut hat, die teuer im Unterhalt ist, lebt selten frei. Dafür folgsam.

Die Schweizer Variante davon ist besonders subtil. Wir sparen, versichern, investieren und diversifizieren. Wir wollen alles unzerstörbar machen. Doch Unzerstörbarkeit ist ein Mythos. Und ein teurer. Sicherheit wird zum Fetisch, der immer mehr kostet, aber nie sattmacht. Wir bauen Mauern um Leben, die eigentlich Begegnung suchen.

Was wir verlieren

Wir verlieren Beweglichkeit. Wir verlieren geistige Leichtigkeit. Wir verlieren den Sinn. Wir verlieren uns. Nicht abrupt, sondern leise. Wohlstand löscht das Abenteuer aus dem Alltag und ersetzt es durch Komfort. Aber wir brauchen nicht nur Komfort. Wir brauchen vor allem Lebendigkeit. Das Gefühl, dass etwas auf dem Spiel steht. Dass etwas möglich ist. Dass ein Leben nicht verwaltet, sondern gestaltet wird. Wenn Wohlstand zur Haut wird, die wir nicht mehr abstreifen können, verliert das Leben seine Temperatur.

Eine bescheidene, aber realistische Utopie

Was wäre eine Alternative? Keine Revolution. Keine Askese. Keine moralischen Appelle. Eine stille Kulturveränderung, die von uns Einzelnen ausgeht. Eine Utopie der realistischen Suffizienz, weil sie einfach beginnt.

  • Erstens: Wir reduzieren. Nicht radikal, sondern bewusst. Ein Gegenstand hinein, einer hinaus. Kein Depot, keine Box, keine ausgelagerten Erinnerungen. Was bleibt, soll bleiben, weil wir es lieben.

  • Zweitens: Wir entkommerzialisieren Zeit. Eine Stunde täglich ohne Gerät, ohne Input. Die Erschöpfung der Reizüberflutung ist heilbar, aber nur durch Stille.

  • Drittens: Wir pflegen kleine Kreise. Weniger Kontakte, dafür tiefere. Nähe ist kein Massenprodukt.

  • Viertens: Wir teilen. Werkzeuge, Räume, Wissen, Verantwortung. Besitz schwindet, wenn er zirkuliert, aber Wert entsteht.

  • Fünftens: Wir bevorzugen Qualität. Weniger, besser, länger. Die alte schweizerische Tugend, die wir im Konsumrausch vergessen haben.

  • Sechstens: Wir erlauben uns Unvollständigkeit. Wer nicht alles hat, hat Platz für Neues.

Diese Utopie ist nicht die Rückkehr in ein romantisiertes Früher. Sie ist der Schritt in ein leichteres Morgen.

Worum es am Ende wirklich geht?

Wohlstand ist nicht das Problem. Das Problem ist die Vorstellung, dass es immer mehr davon sein muss. Wohlstand ist wertvoll, solange er uns dient und nicht wir ihm. Wir müssen unsere Beziehung zu ihm neu gestalten. Mehr Mut zur Leere. Mehr Vertrauen ins Leben. Mehr Echtheit im Alltag.

Die zentrale Frage ist wohl nicht, ob uns unser Wohlstand erdrückt. Sondern ob wir bereit sind, ihn zu tragen wie ein Werkzeug und nicht wie ein Schicksal. Wohlstand, richtig verstanden, ist kein Gewicht. Er ist ein Möglichkeitsraum. Und dieser Raum kann gross, leicht und frei sein, wenn wir ihn nicht länger zustellen.

 
Gesellschaft: hier zu allen Artikeln zum Beitrag
Hier zum Blog
Den Newsletter hier abonnieren