Wie hat sich das Verständnis von CPTSD entwickelt, und welche wichtigen Meilensteine gibt es in Forschung und Diagnostik?
Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (CPTSD) ist heute gründlicher erforscht und verstanden als je zuvor. Von den ersten Erkenntnissen durch Dr. Judith Herman in den 1990er-Jahren bis zur Aufnahme in die ICD-11 der WHO im Jahr 2018 hat sich viel getan. Doch es bleibt eine Herausforderung, CPTSD weltweit anzuerkennen und spezifische Behandlungen für Betroffene zu etablieren.
Daniel Frei – Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (CPTSD) ist ein Begriff, der in der modernen Psychologie und Medizin vergleichsweise jung ist. Dennoch hat sich das Verständnis dieser Erkrankung in den vergangenen Jahrzehnten stark weiterentwickelt. Dabei haben Forschungen und die Arbeit engagierter Fachleute dazu beigetragen, dass CPTSD heute als eigenständige Diagnose in vielen Teilen der Welt anerkannt wird.
Die Ursprünge: Traumata verstehen lernen
Die Beschäftigung mit psychischen Traumata reicht weit zurück. Bereits während des Ersten Weltkriegs sprach man von «Kriegsneurosen», um die psychischen Leiden von Soldaten zu beschreiben. Diese frühen Erkenntnisse konzentrierten sich jedoch auf akute Belastungen, ausgelöst durch extreme Situationen wie Kämpfe oder Bombenangriffe. Der Fokus lag auf der PTSD (posttraumatischen Belastungsstörung), die durch einzelne, klar definierbare traumatische Ereignisse entsteht.
Erst in den 1980er-Jahren begann die Psychologie, die Auswirkungen von lang anhaltenden, wiederholten Traumata zu erforschen. Dr. Judith Herman, eine renommierte amerikanische Psychiaterin, veröffentlichte 1992 das Buch Trauma and Recovery. Sie war eine der ersten, die argumentierten, dass es bei Menschen, die über längere Zeiträume hinweg Traumata erlitten haben, besondere Symptome und Verläufe gibt, die durch die klassische PTSD-Diagnose nicht ausreichend beschrieben werden können.
Judith Hermans Einfluss: Die Geburtsstunde von CPTSD
Herman führte den Begriff der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung ein, um die spezifischen Auswirkungen von wiederholtem Missbrauch, Vernachlässigung oder Gewalt zu beschreiben. Sie zeigte auf, dass diese Form von Trauma nicht nur zu Symptomen wie Flashbacks und Vermeidungsverhalten führt, sondern auch tiefgreifende Störungen in der emotionalen Regulation, der Selbstwahrnehmung und den Beziehungen der Betroffenen verursacht.
Ihr Modell war bahnbrechend und stellte die Weichen für eine umfassendere Betrachtung von Trauma. Herman betonte, dass CPTSD die «Erfahrung einer fortgesetzten Gefangenschaft» widerspiegelt, sei es durch häusliche Gewalt, institutionelle Unterdrückung oder systematischen Missbrauch. Diese Erkenntnisse wurden in der Fachwelt zwar anerkannt, doch es dauerte Jahre, bis CPTSD als eigenständige Diagnose diskutiert wurde.
Die Entwicklung diagnostischer Kriterien
Ein entscheidender Meilenstein für die Anerkennung von CPTSD war die Forschung, die zeigte, dass die klassischen PTSD-Kriterien nicht ausreichen, um die gesamte Bandbreite der Symptome zu beschreiben. Forscher wie Bessel van der Kolk und Marylene Cloitre führten umfassende Studien durch, um die Unterschiede zwischen PTSD und CPTSD zu verdeutlichen.
Van der Kolk betonte etwa die Rolle des Körpers bei der Verarbeitung von Trauma und wies darauf hin, dass chronisches Trauma tiefergehende, oft schwer zu behandelnde Spuren hinterlässt. Cloitre erarbeitete spezifische diagnostische Kriterien für CPTSD, die neben den PTSD-Symptomen drei zentrale Merkmale umfassen:
Emotionale Dysregulation: Schwierigkeiten, Gefühle zu kontrollieren, häufig verbunden mit chronischen Scham- und Schuldgefühlen.
Gestörtes Selbstbild: Ein tiefgreifendes Gefühl, «wertlos» oder «kaputt» zu sein.
Probleme in Beziehungen: Schwierigkeit, anderen zu vertrauen oder gesunde Bindungen aufzubauen.
Der Durchbruch: Aufnahme in die ICD-11
Der wohl bedeutendste Meilenstein für die Anerkennung von CPTSD kam 2018, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die elfte Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) veröffentlichte. Zum ersten Mal wurde CPTSD hier als eigenständige Diagnose neben PTSD aufgeführt. Diese Entscheidung beruhte auf umfangreichen wissenschaftlichen Studien, die bewiesen, dass CPTSD eigenständige Merkmale aufweist, die nicht durch PTSD allein abgedeckt werden können.
Die Aufnahme in die ICD-11 markierte einen Paradigmenwechsel: Sie ermöglichte es, CPTSD gezielt zu diagnostizieren und spezifische Behandlungsansätze zu entwickeln. Die ICD-11 definiert CPTSD durch die klassischen PTSD-Symptome – wie Flashbacks und Vermeidung – sowie durch zusätzliche Symptome wie emotionale Dysregulation, ein negatives Selbstbild und Beziehungsprobleme.
Warum ist das DSM-5 noch zurückhaltend?
Trotz der Fortschritte in der ICD-11 ist CPTSD im Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen (DSM-5), das vorwiegend in den USA verwendet wird, bis jetzt nicht als eigenständige Diagnose anerkannt. Das DSM-5 subsumiert viele CPTSD-Symptome unter PTSD oder spezifische Komorbiditäten wie Persönlichkeitsstörungen oder Depressionen.
Die Debatte darüber, warum CPTSD im DSM-5 fehlt, ist kontrovers. Kritiker:innen argumentieren, dass dies Betroffenen den Zugang zu spezifischen Behandlungen erschwert und dazu beiträgt, dass CPTSD weiterhin unterschätzt wird.
Der Weg in die Zukunft: Forschung und Bewusstsein
Die Anerkennung von CPTSD als eigenständige Diagnose ist ein Meilenstein, aber es gibt noch viel zu tun. Zukünftige Forschung wird sich darauf konzentrieren, die biologischen Mechanismen von CPTSD besser zu verstehen und innovative Behandlungsmethoden zu entwickeln. Gleichzeitig bleibt es wichtig, das Bewusstsein für CPTSD in der Gesellschaft zu schärfen, damit Betroffene ernst genommen werden.
Ein entscheidender Aspekt ist die Fortbildung von Fachkräften. Psychotherapeutinn:en, Psychiater:innen und andere Fachleute müssen geschult werden, um CPTSD frühzeitig zu erkennen und angemessen zu behandeln. Wie Dr. Judith Herman es formuliert: «Die Anerkennung von Trauma ist der erste Schritt zur Heilung.»
Quellen
Herman, J. (1992). Trauma and Recovery: The Aftermath of Violence–From Domestic Abuse to Political Terror.
World Health Organization (WHO): International Classification of Diseases (ICD-11): Link
Cloitre, M. et al. (2013). «The International Trauma Questionnaire: Development of a CPTSD Measure».
Van der Kolk, B. (2014). The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma.