Ist CPTSD eine anerkannte Diagnose und Erkrankung?

Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (CPTSD) ist seit 2018 offiziell in der ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation anerkannt. Aber nicht alle Diagnosesysteme, wie das DSM-5, haben CPTSD als eigenständige Erkrankung aufgenommen.

 

Der Begriff «Komplexe posttraumatische Belastungsstörung» wurde erstmals 1992 von der amerikanischen Psychiaterin Dr. Judith Herman eingeführt. Illustration: @yuda.aiii

Daniel Frei – Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (CPTSD) ist ein Begriff, der in der Traumaforschung zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Frage, ob CPTSD als eigenständige Diagnose anerkannt ist, wird häufig gestellt – sowohl von Fachleuten als auch von Betroffenen. Die Antwort darauf hängt davon ab, welchen diagnostischen Kriterien man folgt und wie weit der Begriff in der medizinischen und therapeutischen Praxis angekommen ist.

Die Geschichte hinter der Diagnose

Der Begriff «Komplexe posttraumatische Belastungsstörung» wurde erstmals 1992 von der amerikanischen Psychiaterin Dr. Judith Herman eingeführt. In ihrem wegweisenden Buch «Trauma and Recovery» beschreibt sie CPTSD als eine Form von Trauma, das durch lang anhaltende, wiederholte und oft unausweichliche Traumatisierungen entsteht – wie Missbrauch in der Kindheit, Folter oder häusliche Gewalt.

Herman argumentierte, dass die klassischen Kriterien für PTSD (posttraumatische Belastungsstörung) nicht ausreichten, um das gesamte Spektrum der Symptome und Auswirkungen solcher traumatischen Erlebnisse zu erfassen. Die Einführung von CPTSD als Begriff war ein entscheidender Schritt, um die spezifischen Bedürfnisse und Erfahrungen von Menschen mit lang anhaltenden Traumata sichtbar zu machen. Doch der Weg zur Anerkennung als eigenständige Diagnose war – und ist – ein langer.

 

CPTSD im ICD-11: Ein Meilenstein der Anerkennung

Die internationale Anerkennung von CPTSD als Diagnose kam 2018 mit der Einführung der elften Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In diesem Dokument wird CPTSD erstmals als eigenständige Diagnose aufgeführt, getrennt von PTSD. Laut ICD-11 sind die Kernsymptome von CPTSD:

  • Wiedererleben des Traumas (z. B. Flashbacks, Albträume)

  • Vermeidungsverhalten

  • Anhaltende Gefühle von Bedrohung und erhöhter Wachsamkeit

Zusätzlich zu diesen PTSD-typischen Symptomen beschreibt die ICD-11 drei weitere zentrale Merkmale von CPTSD:

  • Störungen in der Selbstregulation: Schwierigkeiten, Emotionen zu kontrollieren, verbunden mit chronischen Gefühlen von Scham, Schuld und Leere.

  • Negative Selbstwahrnehmung: Ein tiefgreifendes Gefühl, «wertlos» oder «kaputt» zu sein.

  • Schwierigkeiten in Beziehungen: Probleme, anderen Menschen zu vertrauen und stabile Bindungen aufzubauen.

Diese Erweiterung der PTSD-Diagnose war ein entscheidender Schritt, um Menschen mit CPTSD spezifischer zu helfen und ihnen Zugang zu geeigneten Therapien zu ermöglichen.

Warum ist CPTSD nicht in allen Diagnosesystemen anerkannt?

Trotz der Aufnahme in die ICD-11 ist CPTSD nicht in allen Diagnosesystemen enthalten. Das bekannteste Alternativsystem, das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen (DSM-5), führt CPTSD nicht als eigenständige Diagnose auf. Stattdessen subsumiert das DSM-5 die Symptome von CPTSD unter den Oberbegriff PTSD oder spezifischen Komorbiditäten wie Persönlichkeitsstörungen oder Depressionen.

Diese Diskrepanz führt dazu, dass CPTSD in manchen Ländern und medizinischen Kontexten weniger bekannt ist und seltener diagnostiziert wird. Kritiker des DSM-5 argumentieren, dass diese Klassifikation Betroffene benachteiligt, da sie ihnen den Zugang zu spezialisierten Therapien erschwert. Die Psychiaterin Judith Herman betonte: «Die Anerkennung von CPTSD ist nicht nur eine diagnostische Frage – sie ist eine Frage der Gerechtigkeit.»

Warum ist die Anerkennung von CPTSD so wichtig?

Die Anerkennung von CPTSD als eigenständige Diagnose ist entscheidend, weil sie das Verständnis und die Behandlung von Traumafolgestörungen verbessert. Menschen mit CPTSD erleben häufig eine lange Odyssee durch das Gesundheitssystem, da ihre Symptome nicht klar einer bekannten Diagnose zugeordnet werden können. Ohne die spezifische Benennung von CPTSD laufen sie Gefahr, falsch diagnostiziert oder unzureichend behandelt zu werden.

Eine klare Diagnose ermöglicht es hingegen, geeignete Therapieansätze zu wählen, die nicht nur die Symptome, sondern auch die zugrunde liegenden Verletzungen adressieren. Sie schafft zudem ein grösseres Bewusstsein für die Unterschiede zwischen PTSD und CPTSD, sowohl bei Fachleuten als auch in der Gesellschaft.

Die Zukunft von CPTSD als Diagnose

Die Aufnahme von CPTSD in die ICD-11 war ein wichtiger Schritt, aber es bleibt noch viel zu tun. Ein besseres Verständnis von CPTSD in der medizinischen und therapeutischen Praxis, die Integration in alle wichtigen Diagnosesysteme und die Schulung von Fachkräften sind essenziell, um Betroffenen zu helfen.

Für viele Menschen mit CPTSD ist die offizielle Anerkennung ihrer Erfahrungen ein Akt der Validierung. Sie zeigt, dass ihr Leiden real ist und ernst genommen wird – ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Heilung.

Quellen

  • Judith Herman, Trauma and Recovery, 1992.

  • World Health Organization (WHO), International Classification of Diseases (ICD-11): Link

  • American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5).

  • Van der Kolk, B., The Body Keeps the Score, 2014.