Ist Kamala Harris das amerikanische «kleine Mädchen», das wie damals Angela Merkel alle überraschen wird?
In der Weltpolitik werden manche Geschichten zu Symbolen des Fortschritts und der Veränderung. Angela Merkel, die aus einfachen Verhältnissen in der DDR stammte, stieg zur mächtigsten Frau Europas auf und prägte die europäische Politik über eine Dekade hinweg. Kamala Harris, die erste Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten und die erste Person afroamerikanischer und südasiatischer Abstammung in diesem Amt, ist ein weiteres Beispiel einer aussergewöhnlichen politischen Karriere. Der Vergleich dieser beiden Figuren wirft die Frage auf: Kann Kamala Harris als das amerikanisches «kleine Mädchen» betrachtet werden, das wie Merkel durch persönliche Stärke und Beharrlichkeit zu einer einflussreichen Führungspersönlichkeit wird?
Daniel Frei – Der Begriff «kleine Mädchen» in Bezug auf Angela Merkel stammt aus einer historischen Begebenheit, die während der Wiedervereinigung Deutschlands und ihrer frühen politischen Karriere stattfand. Als die Berliner Mauer 1989 fiel, befand sich Merkel, die damals in der Wissenschaft tätig war, am Anfang ihrer politischen Laufbahn. Sie trat der neu gegründeten Demokratischen Aufbruch (DA) bei, einer Partei, die sich im Zuge der Wende formierte und später in der Christlich Demokratischen Union (CDU) aufging.
Der Begriff des «kleinen Mädchens» wurde vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl geprägt, als Merkel 1991 in sein Kabinett berufen wurde. Zu dieser Zeit war sie relativ unbekannt und unerfahren in der Politik, was sie für viele zu einer überraschenden Wahl machte. Kohl, der Angela Merkel als «sein Mädchen» bezeichnete, sah in ihr eine talentierte Nachwuchspolitikerin und nutzte diesen Ausdruck, um sie in die politische Führung der vereinigten Bundesrepublik Deutschland einzuführen. Dies geschah insbesondere, als sie zur Bundesministerin für Frauen und Jugend ernannt wurde.
Diese Bezeichnung spiegelt sowohl Kohls paternalistische Herangehensweise als auch die überraschende Jugend und das damals noch unbekannte politische Potenzial von Merkel wider. Im Laufe der Jahre hat Merkel diese Anfangsphase ihrer Karriere weit hinter sich gelassen und sich zu einer der weltweit einflussreichsten Politikerinnen entwickelt, was den anfänglichen Spitznamen «kleines Mädchen» in einen historischen Kontext stellt. Der Begriff blieb jedoch als symbolisches Element ihrer ungewöhnlichen und beeindruckenden politischen Karriere erhalten.
Parallelen: Gemeinsamkeiten in den Aufstiegen
Angela Merkel wurde 1954 in Hamburg geboren und wuchs in der DDR auf. Ihr Vater, ein protestantischer Pfarrer, zog mit der Familie in den Osten, als Merkel noch ein Kind war. Diese Entscheidung, in einem atheistischen Staat Pfarrer zu sein, prägte Merkels frühes Leben. Sie wuchs in einer Gesellschaft auf, die durch politische Repression und staatliche Kontrolle geprägt war. Merkel studierte Physik an der Universität Leipzig und promovierte 1986 in Quantenchemie. Ihre wissenschaftliche Ausbildung und ihre Erfahrung im kommunistischen System gaben ihr eine einzigartige Perspektive auf die Weltpolitik.
Kamala Harris wurde 1964 in Oakland, Kalifornien, geboren. Ihre Mutter, eine Einwanderin aus Indien, war Krebsforscherin, und ihr Vater, ein Einwanderer aus Jamaika, war Professor für Wirtschaftswissenschaften. Harris wuchs in einer Umgebung auf, die stark von der Bürgerrechtsbewegung beeinflusst war. Sie studierte an der Howard University, einer der historisch schwarzen Universitäten in den USA, und machte später ihren Abschluss in Jura an der University of California, Hastings College of the Law. Harris’ bikulturelle Identität und ihr Engagement in sozialen Gerechtigkeitsfragen prägten ihren politischen Weg.
Politische Karrieren
Merkel trat 1990, kurz nach dem Fall der Berliner Mauer, in die Politik ein. Sie wurde zur stellvertretenden Regierungssprecherin unter der Regierung von Lothar de Maizière ernannt. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands trat sie der Christlich Demokratischen Union (CDU) bei und wurde schnell zur Bundesministerin für Frauen und Jugend ernannt. Merkel erwies sich als politisch geschickt und stieg innerhalb der CDU auf, bis sie 2005 zur ersten weiblichen Bundeskanzlerin Deutschlands gewählt wurde. Ihre Amtszeit war geprägt von der Eurokrise, der Flüchtlingskrise und einer sich verändernden internationalen Landschaft.
Kamala Harris begann ihre politische Karriere als stellvertretende Bezirksstaatsanwältin in Alameda County, Kalifornien. Sie wurde später zur Bezirksstaatsanwältin von San Francisco und schliesslich zur Generalstaatsanwältin von Kalifornien gewählt, dem grössten Justizministerium in den USA. 2017 wurde Harris als Senatorin in den US-Senat gewählt, wo sie sich einen Ruf als scharfe Fragestellerin in Anhörungen erwarb. 2020 wurde sie als Vizepräsidentin an der Seite von Joe Biden gewählt, was sie zur ersten Frau und zur ersten Person of Color in diesem Amt machte.
Unterschiede: Kontextuelle und kulturelle Unterschiede
Merkels politische Laufbahn fand in einer parlamentarischen Demokratie statt, in der sie Koalitionen bilden und einen Konsens zwischen verschiedenen politischen Parteien herstellen musste. Deutschland, geprägt von seiner Geschichte und seiner zentralen Rolle in der Europäischen Union, stellt seine Kanzler vor die Herausforderung, sowohl nationale Interessen zu vertreten als auch europäische Integration und Zusammenarbeit zu fördern. Merkel war bekannt für ihren pragmatischen Stil und ihre Fähigkeit, durch schwierige politische Situationen zu navigieren, einschliesslich der Finanz- und der Flüchtlingskrise.
Kamala Harris agiert in einem präsidialen System, das durch eine starke Exekutive und oft tiefe politische Spaltungen gekennzeichnet ist. Die USA haben eine Geschichte intensiver Parteipolitik und Polarisierung, die sich in den vergangenen Jahren verschärft hat. Harris steht vor der Herausforderung, in einer Zeit grosser nationaler Spannungen zu regieren, einschliesslich Fragen der Rassengerechtigkeit, der Polizeireform und der öffentlichen Gesundheit. Ihre Position als Vizepräsidentin bringt eine besondere Verantwortung mit sich, als Bindeglied zwischen dem Präsidenten und der Legislative zu fungieren.
Gesellschaftliche Erwartungen und Repräsentation
Angela Merkel wurde oft als «Mutti» der Nation wahrgenommen, eine Figur, die Stabilität und Verlässlichkeit ausstrahlt. In der deutschen Gesellschaft, die durch eine Geschichte starker männlicher Führungspersönlichkeiten geprägt ist, wurde Merkel als ungewöhnliche, aber letztlich beruhigende Führungsfigur angesehen. Ihre nüchterne und unaufgeregte Art half ihr, das Vertrauen der Öffentlichkeit zu gewinnen, auch in Zeiten grosser Herausforderungen.
Kamala Harris hingegen repräsentiert eine neue Art der Führung in den USA. Als Tochter von Einwanderern und als erste Frau of Color im Vizepräsidentenamt verkörpert sie einen Wandel in der amerikanischen Politik. Harris wird oft als Brückenbauerin zwischen verschiedenen kulturellen und ethnischen Gemeinschaften gesehen. Ihre Rolle als Pionierin bringt jedoch auch Herausforderungen mit sich, da sie oft überhöhten Erwartungen und kritischen Prüfungen ausgesetzt ist, die ihre männlichen Kollegen möglicherweise nicht in gleichem Masse erleben.
Einzigartigkeit und gemeinsame Herausforderungen
Der Vergleich von Kamala Harris mit Angela Merkel zeigt sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede in den politischen Aufstiegen dieser beiden bemerkenswerten Frauen. Beide haben es geschafft, in politisch komplexen Umgebungen aufzusteigen und als symbolische Figuren ihrer Zeit zu dienen. Während Merkel eine Stabilitätsfigur in Europa war, steht Harris vor der Aufgabe, in einer tief gespaltenen amerikanischen Gesellschaft eine einigende und transformative Rolle zu spielen.
Der Begriff des «amerikanischen kleinen Mädchens» ist daher sowohl zutreffend als auch unzureichend, um Harris’ Aufstieg und Einfluss zu beschreiben. Ihre Geschichte ist eine von vielen in einer vielfältigen und komplexen Nation, und sie verkörpert die Hoffnungen und Herausforderungen einer sich verändernden Gesellschaft.
In beiden Fällen, sowohl bei Merkel als auch bei Harris, zeigt sich, dass Führungsstärke oft aus einer Mischung von persönlichen Erfahrungen, kulturellen Hintergründen und politischen Systemen hervorgeht, die jede Frau einzigartig formen.