Alles «woke» oder was oder was ist «woke» und welche Alternativen haben wir?

Der Begriff «woke» hat in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit erregt und ist zu einem festen Bestandteil der öffentlichen Debatte geworden. Doch was bedeutet «woke» eigentlich? Woher stammt dieser Begriff, und warum wird er zunehmend als abwertend verwendet und welche Alternativen gibt es? In diesem Artikel untersuche ich den Begriff, seine Herkunft und die Verwendung und biete Auswege aus der Abwertung, die die Verwendung des Begriffs oft mit sich bringt.

Gibt es konstruktiverer Ansätze, anstatt alles als “woke” abzutun? Fotografie: Daniel Frei

Gibt es konstruktiverer Ansätze, anstatt alles als “woke” abzutun? Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Der Begriff «woke» stammt ursprünglich aus der afroamerikanischen Umgangssprache und bedeutet wörtlich «aufgewacht» oder «bewusst». In den 1940er-Jahren wurde er verwendet, um jemanden zu beschreiben, der sich der rassistischen Unterdrückung und Ungerechtigkeiten bewusst ist. Die Verwendung des Begriffs fand ihren Weg in die breitere Öffentlichkeit durch das Lied «Scottsboro Boys» von Lead Belly, in dem die Zeile «stay woke» vorkommt. Diese Aufforderung, wachsam und bewusst gegenüber sozialen Ungerechtigkeiten zu bleiben, war ein Aufruf zur politischen und sozialen Wachsamkeit.

Während der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren gewann «woke» weiter an Bedeutung. Aktivisten wie Martin Luther King Jr. und Malcolm X forderten die afroamerikanische Gemeinschaft auf, sich der systemischen Ungerechtigkeiten bewusst zu sein und aktiv für ihre Rechte zu kämpfen. Der Begriff «woke» wurde zu einem wichtigen Symbol für das Bewusstsein und die Wachsamkeit gegenüber Rassismus und sozialer Ungerechtigkeit.

«Scottsboro Boys» von Lead Belly auf Youtube

Woke in der modernen Zeit

Im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung von «woke» weiterentwickelt und umfasst heute ein breiteres Spektrum an sozialen und politischen Bewusstseinszuständen. Es geht darum, sich nicht nur der rassistischen Ungerechtigkeiten bewusst zu sein, sondern auch Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, LGBTQ+-Rechte, Umweltgerechtigkeit und andere soziale Gerechtigkeitsfragen zu verstehen und zu unterstützen. Der Begriff wurde in den 2010er-Jahren besonders durch die Black-Lives-Matter-Bewegung wiederbelebt und weitverbreitet, als diese Bewegung weltweit Aufmerksamkeit erregte und viele Menschen dazu inspirierte, sich aktiv gegen Rassismus und Polizeigewalt einzusetzen.

Woke als positives Attribut

Für viele Menschen, insbesondere in progressiven Kreisen, ist «woke» ein positiver Begriff. Er beschreibt jemanden, der sich aktiv für soziale Gerechtigkeit einsetzt und sich gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit stellt. In diesem Sinne wird «woke» als Kompliment verwendet, das Engagement und Bewusstsein für wichtige gesellschaftliche Themen hervorhebt. Prominente Persönlichkeiten wie die US-Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez haben den Begriff positiv verwendet, um ihre Unterstützung für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit auszudrücken. Ocasio-Cortez sagte einmal: «Being woke means being aware of the power dynamics in our society and working to create a more just world for everyone.» («Wach (bewusst) zu sein bedeutet, sich der Machtdynamik in unserer Gesellschaft bewusst zu sein und daran zu arbeiten, eine gerechtere Welt für alle zu schaffen.»).

Woke als abwertender Begriff

Allerdings hat der Begriff heute eher eine abwertende Konnotation erhalten. Kritiker:innen verwenden «woke» oft spöttisch, um Menschen zu beschreiben, die ihrer Meinung nach übertrieben politisch korrekt sind oder sich moralisch überlegen fühlen.

Politisch kann die Abwertung von «woke» als Strategie verwendet werden, um progressive Positionen zu delegitimieren und zu marginalisieren. Indem man progressive Ideen als übertrieben oder lächerlich darstellt, können Akteur:innen ihre eigene Agenda fördern und die Anhängerschaft festigen. Diese Strategie kann dazu beitragen, die eigene Basis zu mobilisieren und politische Gegner:innen zu diskreditieren.

Dieser negative Gebrauch des Begriffs ist in den vergangenen Jahren besonders in konservativen und rechtspopulistischen Kreisen populär geworden. Ein Beispiel hierfür ist der britische Autor und Journalist Douglas Murray, der in seinem Buch «The Madness of Crowds» die «woke culture» als exzessiv und spaltend kritisiert. Murray argumentiert, dass die ständige Fokussierung auf Identitätspolitik und die daraus resultierende Empörungskultur die Gesellschaft polarisiert und den sozialen Zusammenhalt untergräbt.

Die mediale Berichterstattung hat ebenfalls zur Polarisierung des Begriffs beigetragen. Während linke Medien «woke» oft in einem positiven Licht darstellen und betonen, wie wichtig es ist, soziale Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, neigen konservative Medien dazu, den Begriff negativ zu konnotieren und als Symbol für übertriebene politische Korrektheit und Zensur darzustellen. Fox News, ein prominenter konservativer Nachrichtensender in den USA, verwendet den Begriff häufig, um progressive Bewegungen und Ideen zu kritisieren und als Bedrohung für traditionelle Werte darzustellen.

Warum wird «woke» gerade heutzutage so oft verwendet?

Die zunehmende Bedeutung von «woke» ist ein Spiegelbild des gesellschaftlichen Wandels und der wachsenden Sensibilität für soziale Gerechtigkeitsthemen. Bewegungen wie Black Lives Matter, #MeToo und Fridays for Future haben dazu beigetragen, dass Fragen der sozialen Gerechtigkeit und des Bewusstseins für Ungerechtigkeiten in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gerückt sind. Diese Bewegungen haben dazu beigetragen, dass der Begriff «woke» zu einem Schlagwort für ein neues Zeitalter des Aktivismus und der sozialen Verantwortung geworden ist. In einer Zeit, in der soziale Medien eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Diskurs spielen, hat «woke» eine neue Dimension der globalen Vernetzung und Mobilisierung erreicht.

Der Begriff «woke» steht auch im Zentrum des sogenannten «kulturellen Krieges», der in vielen westlichen Gesellschaften zu toben scheint. Einerseits stehen diejenigen, die sich für eine progressive Agenda einsetzen und soziale Ungerechtigkeiten bekämpfen wollen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die diese Bewegungen als übertrieben oder sogar gefährlich betrachten und sich für traditionelle Werte und Normen einsetzen. Dieser Konflikt spiegelt sich in der polarisierten Verwendung des Begriffs «woke» wider. Konservative Kommentatoren wie Ben Shapiro und Jordan Peterson kritisieren die «woke culture» häufig als Bedrohung für die Meinungsfreiheit und die traditionelle westliche Kultur.

Insgesamt spiegelt die abwertende Verwendung von «woke» durch konservative Menschen eine breitere kulturelle und politische Spannung wider, die in vielen westlichen Gesellschaften existiert. Es ist ein Ausdruck des Widerstands gegen Veränderungen, die als zu schnell oder zu radikal empfunden werden, und gleichzeitig eine Verteidigung traditioneller Werte und Normen.

Soziale Medien haben die Verbreitung und Popularität des Begriffs «woke» weiter erheblich beeinflusst. Plattformen wie X (ehemals Twitter), Instagram und TikTok haben es Aktivistinn:en ermöglicht, ihre Botschaften schnell und weitreichend zu verbreiten und eine globale Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu schaffen. Diese Plattformen haben jedoch auch zur Polarisierung beigetragen, indem sie Echo-Kammern schaffen, in denen Menschen nur mit Gleichgesinnten interagieren und gegensätzliche Meinungen ignorieren. Der Algorithmus-basierte Inhalt dieser Plattformen verstärkt oft kontroverse und polarisierende Beiträge, was den kulturellen Krieg weiter anheizt.

Ein konstruktiverer Ansatz, anstatt alles als «woke» abzutun

Die Debatte um den Begriff «woke» hat sich zunehmend polarisiert und oft führt das einfache Abtun von Ideen als «woke» zu einer Verhärtung der Fronten. Doch welche Verhaltensweisen wären besser geeignet, um zu einem produktiveren und respektvolleren Diskurs beizutragen?

Zuhören und Verstehen und die Perspektive der anderen erkennen

Bevor man Ideen und Konzepte als «woke» abtut, ist es wichtig, die Perspektiven und Erfahrungen derjenigen zu verstehen, die diese Ansichten vertreten. Oft basieren ihre Positionen auf tiefen persönlichen Erfahrungen mit Ungerechtigkeit und Diskriminierung. Ein echtes Verständnis dieser Perspektiven erfordert Zuhören und Empathie.

Dialog statt Monolog

Ein respektvoller Dialog bedeutet, dass man bereit ist, zuzuhören und seine eigene Position zu überdenken. Dies schafft Raum für gegenseitiges Verständnis und kann helfen, gemeinsame Lösungswege zu finden. Ein Dialog sollte das Ziel haben, Brücken zu bauen, statt Gräben zu vertiefen.

Kritisches Denken und Differenzierung: zwischen berechtigter Kritik und Übertreibung unterscheiden

Nicht alle Forderungen und Ideen, die unter dem Banner von «woke» laufen, sind gleichwertig oder vernünftig. Kritisches Denken bedeutet, zwischen berechtigter Kritik und Übertreibung zu unterscheiden. Statt alles pauschal als «woke» abzulehnen, sollte man spezifische Argumente und Forderungen differenziert betrachten und auf ihre Merkmale und Auswirkungen prüfen.

Kritik kann hilfreich und notwendig sein, sollte aber immer konstruktiv und respektvoll geäussert werden. Es ist wichtig, konkrete Vorschläge zu machen, wie Dinge verbessert werden können, anstatt nur die Schwächen oder Fehler anderer aufzuzeigen. Konstruktive Kritik fördert den Fortschritt und das gegenseitige Verständnis.

Gemeinsame Ziele finden: die Suche nach gemeinsamen Werten

Oft gibt es mehr gemeinsame Werte und Ziele, als man auf den ersten Blick erkennt. Sowohl Progressive als auch Konservative können etwa ein Interesse an sozialer Gerechtigkeit haben, auch wenn sie unterschiedliche Wege dorthin bevorzugen. Die Suche nach diesen gemeinsamen Werten kann eine Basis für Kooperation und gemeinsamen Fortschritt sein.

Statt sich auf die Probleme und Differenzen zu konzentrieren, ist es produktiver, sich auf mögliche Lösungen zu fokussieren. Was kann konkret getan werden, um Ungerechtigkeiten zu verringern und die Gesellschaft gerechter zu gestalten? Diese lösungsorientierte Herangehensweise fördert positive Veränderungen und gemeinsames Handeln.

Bildung und Aufklärung: die Bedeutung von historischer und sozialer Bildung

Ein tieferes Verständnis der historischen und sozialen Hintergründe vieler «woke» Themen kann dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und eine fundiertere Diskussion zu führen. Bildung und Aufklärung sind Schlüssel zu einem informierten und respektvollen Diskurs.

Bildung sollte nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch kritisches Bewusstsein fördern. Menschen sollten ermutigt werden, Fragen zu stellen, Informationen zu hinterfragen und unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen. Dies stärkt die Fähigkeit, differenzierte und fundierte Meinungen zu bilden.

Die Bedeutung von «Woke» im modernen Diskurs und der Weg zu einem konstruktiven Dialog

Der Begriff «woke» hat sich von seinen bescheidenen Ursprüngen in der afroamerikanischen Gemeinschaft zu einem zentralen Schlagwort im modernen Diskurs über soziale Gerechtigkeit und kulturelle Veränderungen entwickelt. Seine Bedeutung und Konnotationen sind vielfältig und komplex, spiegeln jedoch die tiefen gesellschaftlichen Spannungen und den Wandel wider, der unsere Zeit prägt.

Das einfache Abtun von Ideen als «woke» ist weder produktiv noch fördert es den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ein konstruktiverer Ansatz erfordert Zuhören, kritisches Denken, die Suche nach gemeinsamen Werten und eine lösungsorientierte Herangehensweise. Bildung und Aufklärung spielen dabei eine zentrale Rolle. Nur durch respektvollen Dialog und gegenseitiges Verständnis können wir als Gesellschaft Fortschritte machen und eine gerechtere Welt gestalten.

Ob als positives Attribut für Engagement und Bewusstsein oder als abwertender Begriff für übertriebene politische Korrektheit – «woke» ist ein Begriff, der unsere gesellschaftliche Landschaft nachhaltig beeinflusst.