Ordnung – ein menschliches Bedürfnis oder wie unsere Erfahrung Struktur entwickelt, und unsere Struktur unsere Erfahrung begrenzt
Ordnung gibt uns Halt – und setzt uns zugleich Grenzen. Unsere Erfahrungen formen Strukturen, doch diese Strukturen bestimmen wiederum, was wir überhaupt erfahren können. Ein philosophischer Blick auf das Paradox von Sicherheit und Offenheit, von Gewohnheit und Wandel – und auf die verborgenen Türen in unseren Denksystemen.
Struktur gibt uns Halt, Orientierung, Sicherheit. Aber sie ist nicht nur ein Gerüst, das uns trägt. Sie ist auch eine Grenze. Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Wir sind Wesen der Ordnung, strukturieren unser Leben, unsere Gedanken, unsere Gesellschaft – oft, ohne es bewusst zu merken. Struktur gibt uns Halt, Orientierung, Sicherheit. Aber sie ist nicht nur ein Gerüst, das uns trägt. Sie ist auch eine Grenze. Was wir erleben, prägt unser Weltbild und unser inneres Ordnungssystem entscheidet zugleich, welche Erlebnisse wir überhaupt zulassen. Ein Paradox, in dem wir leben und denken. Albert Szent-Györgyi, Nobelpreisträger für Medizin, brachte es folgendermassen auf den Punkt: «Es gibt keinen wirklichen Unterschied zwischen Struktur und Funktion; sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Wenn die Struktur uns nichts über die Funktion verrät, bedeutet das, dass wir sie nicht richtig betrachtet haben.»
Wie Erfahrung zu Struktur wird
Kein Mensch kommt mit festen Überzeugungen zur Welt. Ein Neugeborenes kennt keine Kategorien, keine Regeln, keine Theorien. Es erlebt einfach – unmittelbar, ungefiltert. Mit der Zeit aber lernt es, die Welt zu ordnen: Feuer ist heiss. Stürzen tut weh. Ein Lächeln bedeutet Zuneigung. So entstehen Muster. Aus Muster werden Erwartungen. Aus Erwartungen Regeln. Und aus Regeln entsteht Struktur. Das gilt nicht nur für das Individuum. Auch Kulturen entwickeln sich aus kollektiven Erfahrungen. Kriege bringen neue politische Systeme hervor. Wirtschaftliche Krisen formen neue Finanzmodelle. Technologische Umwälzungen verändern, was als «normal» gilt. Die Welt wird aus Erfahrung geformt – und formt im Gegenzug unsere Erwartungen an die Welt. Und genau da beginnt das Dilemma.
Die unsichtbaren Mauern
Jede Struktur, die aus Erfahrung entsteht, schliesst gleichzeitig andere Erfahrungen aus. Wer einmal gelernt hat, dass Feuer brennt, wird sich davor hüten – und womöglich nie erfahren, dass es auch wärmt. Struktur schafft Sicherheit. Aber Sicherheit hat ihren Preis: Sie begrenzt. Unsere Denkweise – geprägt durch frühere Erlebnisse – bestimmt, was wir für möglich, real, richtig halten. Ein paar Beispiele zur Illustration: Wer als Kind nur Kontrolle kannte, wird Freiheit als Unsicherheit empfinden. Wer oft betrogen wurde, wird Vertrauen mit Naivität verwechseln. Wer in einer Gesellschaft lebt, die Effizienz über alles stellt, wird Müssiggang als Faulheit deuten. Unsere Strukturen sind nicht nur Gerüste – sie sind auch Mauern. Und das Gefährlichste an ihnen ist: Wir bemerken sie nicht mehr. Wir verwechseln unsere Ordnung mit der Wirklichkeit. Doch oft ist das, was wir für die Wahrheit halten, nichts weiter als ein Echo unserer Vergangenheit.
Die Illusion der Klarheit
Immanuel Kant hat es bereits im 18. Jahrhundert erkannt: «Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern wie wir sind.» Unsere Wahrnehmung ist nie objektiv. Sie ist gefiltert – durch Sprache, Kultur, Erziehung, Erlebnisse. Es gibt keine reine, unverstellte Sicht auf die Welt. Und dennoch verhalten wir uns oft so, als gäbe es sie. Wir bauen Theorien, Systeme, Weltbilder – und halten sie für endgültig. Aus Regeln, die einmal sinnvoll waren, werden Dogmen. Aus Gewohnheiten werden Glaubenssätze. Aus Erfahrung wird Gesetz. Dabei vergessen wir: Jede Ordnung ist ein Modell, kein Abbild der Wirklichkeit.
Die Tür im System
Was wäre, wenn wir Strukturen nicht als Endpunkt, sondern als Anfang verstünden? Nicht als Abschluss, sondern als Einladung? Denn jede Struktur hat eine Tür. Die Frage ist nur, ob wir sie öffnen: Wer stets misstraut hat, kann lernen, Vertrauen zu riskieren. Wer nur eine Wahrheit kannte, kann neue Perspektiven entdecken. Wer glaubt, alles zu wissen, kann beginnen, wirklich zu lernen. Erfahrung schafft Ordnung – aber Ordnung darf kein Käfig sein. Vielleicht ist die grösste Freiheit nicht, sich von Strukturen zu lösen, sondern sie beweglich zu halten.
Zwischen Sicherheit und Wagnis
Unsere Erfahrungen formen Strukturen. Und unsere Strukturen filtern Erfahrungen. Das ist kein Widerspruch, sondern ein Kreislauf. Das Leben ist kein starres System. Es ist ein Tanz zwischen Gewohnheit und Neugier, zwischen Sicherheit und Aufbruch. Zwischen dem, was wir kennen, und dem, was wir noch nicht gewagt haben. Struktur benötigen wir – ohne sie versinken wir im Chaos. Aber wir brauchen auch den Mut, sie zu hinterfragen. Sie zu lockern. Sie umzubauen. Denn manchmal ist der Weg zu neuen Erfahrungen ganz einfach: Man muss nur erkennen, dass die Tür schon da ist.