Sex und Rituale: eine Betrachtung
«Ist Sex rituell?» - In einer Auseinandersetzung mit der ritualisierten Natur des Sexuellen tauche ich ein in das Zusammenspiel von Macht, Begierde und menschlichem Verhalten. Dabei werfe ich Fragen auf, die das Wesen sexueller Rituale und die Gründe für ihre Entstehung beleuchten.
Daniel Frei - «Ist Sex rituell?», fragte mich letzte Woche ein mir lieber Freund am Telefon, anspielend auf meine Artikel-Reihe zum Thema «Rituale».
Erste Gedankenspiele
Beim Spielen mit den Begriffen «Ritueller Sex», «sexuelle Rituale» und «Sex-Rituale».
Ich kann im ersten Moment weder eindeutig ja noch nein sagen, fühle mich überfragt, weiss keine schlüssige Antwort, bedinge mir Denkzeit aus, und parallel schichten sich die ersten Gedanken auf. Ist Sex rituell? Ich beginne, mit den Begriffen zu spielen: «Ritueller Sex», «sexuelle Rituale», «Sex-Rituale».
Dunkle Seiten rituellen Sexes
Vorstellungen von Macht, Missbrauch und Manipulation in Bezug auf rituellen Sex.
Beim ersteren wird mir, ob den gedanklichen Bildern, die sich bilden, unwohl. Rituellen Sex verbinde ich mit okkultem, Aberglauben, mystifiziertem, Missbrauch und Manipulation. Möglicherweise mit einer Autoritätsperson oder Gruppe, die ihren Status nutzt, in der ein Ungleichgewicht herrscht, in dem ein höheres Etwas vorgeschoben wird, um die eigene Begierde durchzusetzen.
Die Schönheit sexueller Rituale
Angenehmere Vorstellungen und Praktiken, die mit sexuellen Ritualen verbunden sind.
Bei der Begrifflichkeit «sexuelle Rituale» öffnen sich mir angenehmere Zusammenhänge und Bilder: Seien es Blumen zum Geschenk an eine:n Angebetete:n, Komplimente, Blicke, Streicheleinheiten, küssen, massieren – die weiteren Ausführungen überlasse ich individuell der Leserin, dem Leser. Und ja, sexuelle Rituale können Sex einleiten, begleiten, verlängern, intensivieren und abschliessen. Und Sex-Rituale?
Unterscheidung und Bedeutung
Die nuancierten Unterschiede zwischen «sexuellen Ritualen» und «Sex-Ritualen».
Womöglich als bedeutendsten Unterschied zwischen «sexuellen Ritualen» und «Sex-Ritualen» nehme ich wahr, dass «sexuelle Rituale» per se nicht Sex sind, sondern sie können sexuell gedeutet oder beabsichtigt sein und zum Sex hinführen. Es kann also eine gewisse Unschärfe, Unsicherheit dabei mitschwingen, was ihren Reiz wünschenswerter weise für die Beteiligten erhöht. «Sex-Rituale» hingegen deute ich als Rituale während des Sex, der Sex ist nicht nur beabsichtigt und gewollt, sondern im Gange.
Sex-Rituale und Fetischismus
Die komplizierte Verknüpfung von Riten, sexuellen Vorlieben und Fetischen.
Und unweigerlich kommen in mir weitere Gedanken und Fragen auf: Was dann unterscheidet rituellen Sex, sexuelle Rituale und Sex-Rituale vom Fetisch? Wenn denn Fetisch-Sex der Zwang aka die Erfüllung verschiedener Bedingungen ist, ohne welche keine sexuelle Befriedigung entsteht, dann mag auch Fetisch-Sex eine rituelle Form des Sex und ein Sex-Ritual sein, vielleicht sogar ritueller Sex, ohne die negativen Vorzeichen, welche ich beschrieben habe? Und ich hinterfrage mich, ob meine obige Beschreibung von Fetisch-Sex treffend ist. Oder ist einfach unser täglicher Sprachgebrauch bezüglich der Verwendung von «Fetisch» zu unvorsichtig?
Wilhelm Reich und die Orgasmustheorie
Eine tiefe Betrachtung der Theorien, die unser Verständnis von Sex und Rituale weiter prägen könnten.
Meine Gedanken werden klarer und die obigen Ansätze und Herleitung führen mich zu Wilhelm Reich, des wohl umstrittensten Schülers Sigmund Freuds, und seiner Orgasmustheorie. In dieser beschreibt er (vereinfachend) dargestellt, dass alles was ist, wegen des immer gleichen Ablaufs von Kontraktion – Penetration – Willkür – Struktur und Dekontraktion ist.
Rituale als Spiegelbild der Biologie?
Die Reflexion darüber, ob Rituale in Wahrheit Abbilder unseres biologischen Wesens sind.
Was in mir die Frage aufkommen lässt, ob Rituale nichts anderes sind als die Kopie, die Ableitung der Biologie, sie darum so wirkungsvoll, mächtig sind? Schliesslich führen auch Rituale, definitionsgemäss, nach klaren Strukturen und Abläufen von einem Zustand in einen weiteren, um sich dann wieder aufzulösen; sie verändern einen, etwas.
Abschliessende Gedanken
Sex und Rituale, zwei scheinbar getrennte Bereiche menschlichen Erlebens, verschmelzen in der Reflexion zu einem Konglomerat des Verständnisses und der Interpretation. Während einige Aspekte des rituellen Sexes dunkle Konnotationen von Macht und Manipulation in mir aufkommen lassen, bieten andere, wie die sexuellen Rituale, eine anregende und liebevolle Erkundung menschlicher Intimität. Die Grenzen zwischen Ritualen und meinem Verständnis von Fetischismus verschwimmen, was zu weiteren Fragen über die Natur unserer sexuellen Beziehungen und Wünsche führt. Wilhelm Reichs Orgasmustheorie bietet eine biologische Perspektive, die sowohl das Wesen des Sex als auch die ritualisierten Handlungen, die wir ausüben, betrachtet. Am Ende sind vielleicht alle Rituale – ob sexuell oder anderweitig – letztlich Spiegelbilder unserer tiefsten biologischen Triebe und Abläufe. Es scheint mir, dass sie nicht nur unser Verhalten und unsere Beziehungen strukturieren, sondern auch ein zentrales Element des menschlichen Daseins verkörpern: die Suche nach Bedeutung, Verbindung, Abgrenzung und Transformation.
Literatur
«Die Funktion des Orgasmus» von Wilhelm Reich bei Ex Libiris.