Warum ich Anstand ablehne, aber sehr für Höflichkeiten einstehe

In der modernen Gesellschaft werden die Begriffe Anstand und Höflichkeit oft synonym verwendet. Jedoch verbergen sich hinter diesen Wörtern unterschiedliche Konzepte und Herangehensweisen im zwischenmenschlichen Umgang. In diesem Essay werde ich Anstand und Höflichkeit definieren, Beispiele für beide aufzeigen, die Unterschiede herausarbeiten und argumentieren, warum Höflichkeit meiner Meinung nach den Vorzug verdient.

Anstehen? Nein danke. Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Die Grenzen des zwischenmenschlichen Verhaltens müssen immer wieder neu verhandelt und definiert werden. Und es ist an der Zeit, die Konzepte von Anstand und Höflichkeit zu überdenken. Während beide Begriffe zentrale Aspekte des sozialen Miteinanders darstellen, unterscheiden sie sich grundlegend in ihrer Anwendung und Bedeutung. Diese Differenzierung wird umso relevanter, als wir uns in einer zunehmend globalisierten Welt bewegen, in der kulturelle Unterschiede und individuelle Empfindlichkeiten berücksichtigt werden müssen. Die folgenden Abschnitte zielen darauf ab, diese beiden grundlegenden sozialen Konstrukte zu entwirren und zu diskutieren, weshalb in der heutigen Gesellschaft möglicherweise einem der beiden der Vorzug gegeben werden sollte.

Anstand

Anstand bezeichnet ein Bündel von Verhaltensregeln und Normen, die in einer Gesellschaft als richtig und angemessen betrachtet werden. Es geht dabei häufig um Traditionen, ungeschriebene Gesetze und die Einhaltung von sozialen Erwartungen. Anstand kann zum Beispiel bedeuten, dass man bei offiziellen Anlässen angemessene Kleidung trägt, bestimmte Themen in Gesprächen meidet oder man bei Tisch bestimmte Manieren befolgt.

Ein Beispiel für Anstand könnte sein, dass man bei einer Beerdigung schwarze Kleidung trägt. Dies wird vielfach nicht aus persönlicher Überzeugung, sondern aus Respekt vor den gesellschaftlichen Konventionen getan. Ebenso kann es als Zeichen des Anstands gelten, bei einem öffentlichen Essen das Besteck auf eine bestimmte Weise zu benutzen, auch wenn diese Regeln willkürlich und nicht funktional sind.

Höflichkeit

Höflichkeit hingegen basiert auf dem Prinzip des Respekts und der Rücksichtnahme auf die Gefühle und Bedürfnisse anderer. Es ist eine Form des sozialen Umgangs, die zeigt, dass man andere Menschen und ihre Perspektiven wertschätzt. Höflichkeit manifestiert sich in Handlungen wie dem Bedanken, Entschuldigen oder dem Anbieten von Hilfe, aber auch in einer bewussten Kommunikation, die darauf abzielt, Missverständnisse zu vermeiden und den anderen zu ehren.

Ein Beispiel für Höflichkeit könnte sein, zu siezen oder jemandem die Tür aufzuhalten, besonders wenn diese Person Schwierigkeiten hat, sie selbst zu öffnen. Ein anderes Beispiel ist die freundliche Begrüssung eines Kollegen am Morgen oder das Angebot, bei schweren Aufgaben zu helfen, ohne dass dies explizit erwartet wird.

Unterschiede zwischen Anstand und Höflichkeit

Der fundamentale Unterschied zwischen Anstand und Höflichkeit liegt in ihrer Motivation und Flexibilität. Anstand ist oft starren Regeln unterworfen und wird von aussen durch die Gesellschaft oder Traditionen auferlegt. Er kann deshalb in bestimmten Situationen als unnatürlich oder gezwungen empfunden werden. Höflichkeit hingegen ist situativ, individuell und beruht auf der persönlichen Entscheidung, auf andere Rücksicht zu nehmen. Sie ist flexibel und passt sich den Bedürfnissen und dem Kontext der Beteiligten an.

Warum Höflichkeit besser ist als Anstand

Die Präferenz für Höflichkeit über Anstand gründet in der Authentizität und der zwischenmenschlichen Wärme, die Höflichkeit mit sich bringt. Während Anstand oft als leere Geste oder als Erfüllung einer sozialen Pflicht wirkt, ist Höflichkeit ein Ausdruck echter Fürsorge und Achtung vor dem Anderen. Höflichkeit ermöglicht es uns, über starre Konventionen hinaus zu denken und unser Verhalten auf die tatsächlichen Bedürfnisse und Gefühle der Menschen um uns herum abzustimmen.

Nehmen wir das Bild des Buffets: Wer aus Anstand am Buffet ansteht, tut dies vielleicht, weil es erwartet wird, nicht aber, weil er wirklich Rücksicht auf die anderen Gäste nehmen möchte. Und wir wissen, was geschieht, wenn wir am Buffet anstehen: bis wir an der Reihe sind, ist es leer. Eine Metapher dafür, dass formaler Anstand ohne echte Höflichkeit zu einer unerfüllten und leeren sozialen Erfahrung führt. Wer hingegen aus Höflichkeit handelt, tut dies aus einem echten Interesse am Wohlbefinden der anderen – und sorgt damit für eine reichhaltigere, befriedigendere Interaktion für alle Beteiligten.

Höflichkeit, mit ihrer Flexibilität, Echtheit und ihrem Fokus auf den anderen Menschen, stellt ein wesentlich wertvolleres soziales Gut dar, als der oft starre und selbstbezogene Anstand. In einer Welt, die immer komplexer und vielfältiger wird, ist es die Höflichkeit, die uns dabei hilft, Brücken zu bauen, statt Mauern zu errichten.