Warum lügt Werbung?
Werbung ist allgegenwärtig – an Bushaltestellen, auf YouTube und in Apps preist sie uns Schönheit, Erfolg und ein besseres Leben an. Doch wie wahr sind die Versprechen der Werbebotschaften, und warum verzerrt Werbung oft die Realität? Wo endet der gute Verkauf und beginnt die Irreführung und Lüge? Und welche Verantwortung tragen Unternehmen und Konsumentinn:en für die Wahrheitsgestaltung der Werbewelt? Ein kritischer Blick hinter die Kulissen der «Lügen» der Werbung.
Daniel Frei – Plakate an Bushaltestellen, Clips auf YouTube, Banner in Apps – überall werden uns Produkte und Dienstleistungen angepriesen. Die Werbung verspricht uns Schönheit, Erfolg, Glück, Sex und oft genug ein besseres Leben. Doch ist das, was sie verspricht, wahr? Warum neigt Werbung dazu, die Realität zu verzerren, und mit welchen Mitteln tut sie das? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Textes, der die unterschiedlichen Facetten der «Lügen» der Werbung untersucht.
Die Psychologie hinter der Werbung: Wie Manipulation funktioniert
Psychologische Studien zeigen, dass Werbung häufig auf die gezielte Beeinflussung von Emotionen abzielt. Der Psychologe Robert Cialdini beschreibt in seinem Buch Influence: The Psychology of Persuasion die «Weapons of Influence», darunter Techniken wie die Erzeugung von Knappheit und den Aufbau sozialer Beweise.
Diese Taktiken verstärken das Verlangen nach Produkten, indem sie das Gefühl vermitteln, dass wir ein Produkt brauchen, um ein vollwertiges Leben zu führen. Studien belegen, dass emotional aufgeladene Werbung eine höhere Wirkung auf die Kaufentscheidung hat als rein informative Werbung. Werbung lügt also oft, indem sie unseren Wunsch nach einem besseren Selbstbild manipuliert, ohne das Produkt in einem realistischen Licht darzustellen.
Werbung für Schönheitsprodukte suggeriert etwa, dass ein bestimmtes Produkt jugendliche Haut und ein attraktives Aussehen garantiert. Die Realität ist jedoch, dass kein Kosmetikprodukt Altersprozesse wirklich rückgängig machen kann. Die Irreführung liegt hier weniger in der direkten Lüge als in der impliziten Versprechung von Werten und Ergebnissen, die das Produkt realistisch betrachtet nicht erfüllen kann.
Wo endet Übertreibung und beginnt Täuschung?
In der Werbung wird häufig mit Übertreibung gearbeitet, was per se noch keine Lüge darstellt. Doch ab wann wird Übertreibung zur Täuschung und zur Lüge? Der Ethikprofessor Christian Illies von der Universität Bamberg argumentiert, dass Werbung immer dann als unethisch gilt, wenn sie gezielt falsche Hoffnungen weckt oder die Realität zu stark verzerrt, um Verbraucher:innen zu manipulieren. Besonders problematisch wird es, wenn vulnerable Gruppen wie Kinder und Jugendliche, die noch nicht die gleichen Abwehrmechanismen entwickelt haben, gezielt angesprochen werden.
In den USA wurde die Werbung für den sogenannten «Sugar-Coated Breakfast Cereals» für Kinder stark kritisiert. Die Werbung suggerierte eine gesunde Ernährung durch den Zusatz von Vitaminen, obwohl das Produkt hauptsächlich Zucker enthielt. Diese Art der Irreführung wird als unethisch betrachtet, weil sie auf die gesundheitliche Entwicklung von Kindern abzielt und dabei gezielt die Information verschweigt, dass der hohe Zuckergehalt gesundheitsschädlich ist.
Die Wirkung von subliminaler Werbung
Der Einsatz von subliminaler Werbung ist ein weiteres umstrittenes Thema. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Menschen auf unterschwellige Botschaften reagieren können, die sie bewusst gar nicht wahrnehmen. Ein klassisches Experiment, das vom Forscher James Vicary durchgeführt wurde, suggerierte, dass Menschen nach dem Einblenden von «Hungry? Eat Popcorn» und «Drink Coca-Cola» in Filmen mehr dieser Produkte konsumierten. Auch wenn das Experiment später als manipuliert entlarvt wurde, zeigten nachfolgende Studien, dass unterschwellige Werbung einen gewissen Einfluss auf Konsumentscheidungen haben kann, wenn auch geringer als ursprünglich angenommen.
Das Problem an dieser Form der Werbung liegt in der fehlenden Möglichkeit der bewussten Entscheidung. Wenn Werbung Inhalte vermittelt, die wir nicht bewusst wahrnehmen, können wir uns kaum dagegen wehren, was ethisch hochumstritten ist. Die Unterschwelligkeit der Manipulation führt zu einem Kontrollverlust der Konsumierenden, die oft unbemerkt bestimmte Marken oder Produkte bevorzugen.
Der rechtliche Rahmen in der Schweiz: Was ist erlaubt?
In der Schweiz ist Werbung zwar durch verschiedene Gesetze geregelt, doch liegt ein Grossteil der Verantwortung für den Wahrheitsgehalt der Werbung bei den Unternehmen. Die Lauterkeitskommission wacht darüber, dass Werbungen nicht irreführend oder unlauter sind. So verbietet etwa das Schweizer Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) täuschende Werbung, bei der die Verbraucher:innen durch unwahre oder irreführende Aussagen in die Irre geführt werden.
Ein bekanntes Beispiel in der Schweiz war der Fall eines Energydrinks, der mit der Aussage «verleiht Flügel» warb. Nach einer Klage entschied das Gericht, dass dies eine irreführende Aussage sei, da kein Getränk tatsächlich Flügel verleihen könne. Die Firma musste die Werbung anpassen und in einem anderen Kontext präsentieren. Dennoch bleibt oft eine Grauzone bestehen, in der Aussagen durch geschickte Formulierungen interpretiert werden können und in denen das Gesetz keinen direkten Eingriff zulässt.
Moralische und gesellschaftliche Verantwortung der Werbung
Die Frage nach der moralischen Verantwortung der Werbung reicht tiefer als die blosse Einhaltung gesetzlicher Vorgaben. Unternehmen haben die moralische Verantwortung, ehrlich und transparent zu kommunizieren. Werbung formt soziale Normen und kann den Wertvorstellungen einer Gesellschaft enormen Einfluss verleihen. Wenn etwa Schönheitsideale in der Werbung unrealistisch dargestellt werden, wie es oft bei Mode- und Kosmetikprodukten der Fall ist, kann dies zu einem verzerrten Selbstbild und zur Unzufriedenheit bei Konsumentinn:en führen.
Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas spricht in diesem Kontext von der «Kolonialisierung der Lebenswelt». Werbung dringt in alle Lebensbereiche vor und beeinflusst, was wir als wünschenswert und erstrebenswert erachten. Dies schafft eine Kultur der ständigen Unzufriedenheit und der Selbstoptimierung, die besonders Jugendliche und junge Erwachsene stark belastet. Moralisch fragwürdig ist diese Entwicklung, da sie das Selbstwertgefühl von Individuen gezielt angreift und einen nie endenden Konsum fördert.
Die Grauzone der Wahrheitsgestaltung: Zwischen Realität und Konstruktion
Nicht jede Werbung ist eine Lüge, und nicht jeder Slogan, der ein Produkt in einem positiven Licht erscheinen lässt, ist unethisch. Es gibt eine Grauzone, in der Werbung weder eindeutig falsch noch eindeutig richtig ist. Marketingexpertinn:en sprechen hier von einer «Wahrheitsgestaltung», bei der durch die Wortwahl und die Bildsprache eine Realität konstruiert wird, die positiv erscheint, ohne konkret falsche Aussagen zu machen.
Ein typisches Beispiel ist die Verwendung von Begriffen wie «natürlich», «grün» oder «nachhaltig» in der Werbung für Lebensmittel und Kosmetikprodukte. Diese Begriffe vermitteln ein positives Image, sind jedoch rechtlich kaum definiert und lassen somit Raum für Interpretation. In der Schweiz gibt es Bestrebungen, solche Begriffe stärker zu regulieren und zu definieren, doch bislang bewegen sich viele Unternehmen hier in einer Grauzone.
Werbung als Spiegel unserer Gesellschaft
Warum lügt Werbung? Die Antwort auf diese Frage ist komplex und vielschichtig. Werbung verzerrt die Realität nicht zwangsläufig aus Boshaftigkeit, sondern weil sie auf unsere Bedürfnisse und Wünsche reagiert und diese teilweise auch überhöht. Die Lügen der Werbung sind oft geschickt formuliert und verstecken sich hinter Übertreibungen, subtilen Andeutungen und psychologischen Tricks. Die Verantwortung liegt nicht nur bei den Unternehmen, sondern auch bei uns als Konsumentinn:en und bei der Gesellschaft, die Werbung einen hohen Stellenwert einräumt.
Die moralischen und ethischen Aspekte der Werbung zeigen, dass Werbung eine immense Macht besitzt, die Gesellschaft zu formen. Wenn sie jedoch an der Grenze zur Täuschung operiert, wird diese Macht problematisch. Ein kritischer Umgang mit Werbung und eine strengere Regulierung auf gesetzlicher Ebene könnten helfen, eine ehrliche und transparentere Werbelandschaft zu schaffen – eine, die weniger lügt und mehr informiert.