«Guet» ist genug: die Kunst der schweizerischen Mittelmässigkeit
In der Schweiz genügt ein schlichtes «s’geit», wo andere Länder in Superlativen schwelgen. Ist es Bescheidenheit, Angst vor Neid oder einfach ein kultureller Hang zur Zurückhaltung? Unter der Oberfläche der schweizerischen Antwortkultur verbirgt sich eine Lebenskunst, die Balance und Pragmatismus feiert – und den Rest der Welt manchmal ratlos zurücklässt.
Daniel Frei – Understatement als Lebenskunst: Die Schweiz ist das Land der Mitte. Nicht geografisch, sondern emotional. Während sich Amerikaner:innen ohne Zögern als «awesome» bezeichnen und Franzosen sich in «très bien» baden, wählen wir den Weg des minimalen Enthusiasmus. «S'geit», sagen wir, während der Rest der Welt in Superlativen schwelgt. Warum?
«Übermut tut selten gut», predigte schon s’Grosi. Ein Sprichwort, das in unserer DNA steckt. Übertriebenes Lob, selbst bei uns selbst, könnte als Masslosigkeit ausgelegt werden. Besser also, man bleibt bescheiden. Schliesslich will niemand als Grossmaul gelten.
Unsere Zurückhaltung wirkt manchmal befremdlich. Für Aussenstehende mag es fast so scheinen, als ob wir eine gewisse Lust am Untertreiben hätten. Doch dahinter steckt mehr als Tradition. Es ist eine Lebenseinstellung. «Das Gute zu loben ist das Eine. Aber das Gute so zu schätzen, dass man es nicht betonen muss, ist schweizerisch», schreibt der Schriftsteller Peter Bichsel.
Der Neid als Volkskrankheit «Zeig nid z'vöu», heisst es in vielen Haushalten. Es könnte jemand missgünstig werden. Laut einer Studie des Soziologen Jörg Uhlmann ist die Angst vor Neid in der Schweiz üblicherweise ausgeprägter als in anderen Kulturen. Was für Amerikaner:innen ein Anlass zur Party wäre («Ich hab' einen neuen Job und verdiene doppelt so viel!»), führt hierzulande eher zu verschämtem Murmeln. Ist die Bescheidenheit also sozial-psychologisches Kalkül?
Neid ist nicht nur ein soziales Phänomen, sondern auch ein Spiegel gesellschaftlicher Werte. Wer über die Stränge schlägt, wird oft zurückgepfiffen. Sie kennen die Story vom Grashalm der zurückgeschnitten wird, wächst er aufrechter und länger als die anderen? Besonders in kleineren Gemeinden, wo jeder jeden kennt, ist der Druck, nicht aus der Reihe zu tanzen, deutlich spürbar. Der Volksmund sagt es klar: «Z'mittsässä isch z'liebste.»
Die Macht des Mittelmasses. «Überflieger? Nid da!» Ein Schweizer, der «super» sagt, wird fast automatisch verdächtigt, arrogant zu sein. Ich müsste mal mit Housi sprechen. Stattdessen wird das Mittelmass zelebriert. Ein «guet» ist genug, ein «nid schlächt» fast schon euphorisch. Das klingt ernüchternd, hat aber Methode. Denn das Mittelmass ist nicht etwa Mittelmass – es ist die wahre Schweizer Perfektion.
Das Streben nach Mittelmass ist dabei nicht mit Mittelmässigkeit zu verwechseln. Es geht nicht darum, sich mit wenig zufriedenzugeben, sondern darum, die Extreme zu vermeiden. Zurückhaltung als Statement. Eine bewusste Entscheidung, sich nicht von äusserem Druck leiten zu lassen.
Ein Amerikaner würde über uns sagen: «They don't do emotions, do they?» Der Brite, nicht minder zynisch: «All right», mit Augenrollen. Wir dagegen wissen, dass Balance das wahre Ziel ist.
Balance bedeutet auch, sich Freiheiten zu nehmen. Wer «nid schlächt» sagt, öffnet Spielräume. Ein kleines Augenzwinkern, das impliziert: «Es könnte besser sein, aber es könnte auch schlimmer sein.», oder höchstens ein melancholischer Unterton, der zusätzlich Tiefe zeigt und zu stillem Mitgefühl einlädt. Diese pragmatische Sichtweise hilft, Stress zu reduzieren. Warum sich über Kleinigkeiten aufregen, wenn das Gesamtbild stimmt?
Schluss mit Superlativen. Vielleicht, ganz vielleicht, liegt in der schützenden Zurückhaltung ein Stück Freiheit. «S'geit» lässt Raum für Interpretation. Ist alles in Ordnung? Oder doch nur knapp über Wasser? Man weiss es nicht und es spielt keine Rolle. Die Hauptsache ist: Wir bleiben gelassen.
Diese Gelassenheit hat auch eine philosophische Dimension. Der Schweizer Ethiker Anton Leist erklärt: «Gelassenheit ist nicht Gleichgültigkeit, sondern ein Ausdruck tiefer innerer Zufriedenheit. Sie basiert auf der Einsicht, dass nicht alles perfekt sein muss, um gut zu sein.»
Guet isch guet gnueg. Wenn also das nächste Mal jemand fragt: «Wie geit's?», erinnern Sie sich: Das perfekte Antwortüben im Spiegel ist nicht nötig. Ein «s'geit» reicht völlig. Sie sind nicht langweilig, Sie sind Schweizer:in. Und genau darin liegt Ihre Einzigartigkeit. Denn manchmal ist das leise «guet» lauter als jedes «fantastisch».