Matriarchat ist auch nicht besser. Gleichberechtigung schon?

Die Debatte um Geschlechtergerechtigkeit und Machtverhältnisse in Gesellschaften ist glücklicherweise so alt wie die Menschheit selbst. Oftmals wird das Patriarchat als ein historisch dominierendes System beschrieben, das es zu überwinden gilt. Einige schlagen als Alternative ein Matriarchat vor, in dem Frauen die führende Rolle übernehmen. Doch ist das wirklich die Lösung?

Matriarchat ist auch nicht besser. Gleichberechtigung schon? Illustration: Daniel Frei

Matriarchat ist auch nicht besser. Gleichberechtigung schon? Illustration: Daniel Frei

Daniel Frei – Die Debatte um Geschlechtergerechtigkeit und Machtverhältnisse in der Gesellschaft ist glücklicherweise so alt wie die Menschheit selbst. Glücklicherweise darum, weil nur die laufende Debatte und Verhandlung längerfristig zu Veränderung führen kann. Während das Patriarchat als historisch dominierendes System weitverbreitet ist, wird gelegentlich ein Matriarchat als Alternative vorgeschlagen, in dem Frauen die führende Rolle übernehmen.

“Gleichberechtigung ist nicht nur ein Recht, sondern eine Verantwortung aller Menschen.” – Nelson Mandela

Doch stellt sich die Frage, ob dies wirklich die Lösung für die tief verwurzelten Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten ist. Nelson Mandela’s Satz bildet die Grundlage für die Betrachtung, warum echte Gleichberechtigung der Schlüssel zu einer gerechteren und harmonischeren Gesellschaft sein könnte, anstatt einfach nur die Machtverhältnisse zu verschieben.

Was ist ein Matriarchat?

Ein Matriarchat ist ein soziales System, in dem Frauen die zentrale Rolle in der Führung, Entscheidungsfindung und Strukturierung der Gesellschaft innehaben. In einem solchen System sind Frauen oft die Hauptverwalterinnen von Ressourcen und Macht. Matriarchate zeichnen sich durch die Erbfolge durch die weibliche Linie, weibliche Entscheidungsgewalt und eine hohe Wertschätzung weiblicher Beiträge aus. Historische Beispiele sind selten, aber einige indigene Kulturen wie die Mosuo in China oder die Minangkabau in Indonesien haben matriarchale Elemente. Matriarchale Strukturen beinhalten oft auch eine soziale und kulturelle Organisation, die auf Kooperation und Gemeinschaftsorientierung ausgerichtet ist.

Die Mosuo

Die Mosuo sind eine ethnische Gruppe in der Provinz Yunnan in China. In dieser Gesellschaft übernehmen die Frauen die Haushaltsführung und Eigentum sowie Namen werden durch die weibliche Linie vererbt.

  • Erbfolge: Das Eigentum wird von der Mutter auf die Töchter vererbt. Männer haben keine dauerhafte Rolle im Haushalt, ausser als Brüder und Onkel.

  • Sexuelle Freiheit: Die Mosuo praktizieren eine Form der freien Liebe, bekannt als “Tischaubeziehungen”, bei der Frauen ihre Partner frei wählen und Beziehungen auflösen können, ohne soziale Stigmatisierung.

  • Wirtschaft: Frauen sind für die Verwaltung der Wirtschaftsgüter und den Anbau von Lebensmitteln verantwortlich, während Männer oft für die Viehzucht zuständig sind.

  • Religion: Die religiösen Praktiken der Mosuo sind stark von der tibetischen Buddhismus und schamanistischen Traditionen beeinflusst, wobei Frauen oft zentrale religiöse Rollen einnehmen.

Die Minangkabau

Die Minangkabau sind die weltweit größte matrilineare Gesellschaft und leben hauptsächlich in der Provinz Westsumatra, Indonesien.

  • Matrilineare Erbfolge: Land und Eigentum werden durch die weibliche Linie vererbt. Dies bedeutet, dass Frauen die Hauptverwalterinnen von Grund und Boden sind, was ihnen eine bedeutende wirtschaftliche Macht verleiht.

  • Gesellschaftsstruktur: Die Minangkabau-Gesellschaft ist in grosse, erweiterte Familien organisiert, die in sogenannten “Rumah Gadang” leben, grossen traditionellen Häusern, die von den ältesten Frauen der Familie geführt werden.

  • Bildung und Beruf: Frauen haben einen hohen Bildungsstand und spielen eine zentrale Rolle in der Wirtschaft. Viele Frauen sind erfolgreich in Handel und Geschäft tätig, während Männer oft in anderen Regionen arbeiten und Geld nach Hause schicken.

  • Kulturelle Praxis: Die Minangkabau feiern die “Pacu Jawi”, ein traditionelles Stierrennen, das oft von Frauen organisiert wird und symbolisiert die Stärke und Führungsrolle der Frauen in der Gemeinschaft.

Weitere Beispiele

  • Irokesen: In Nordamerika haben die Irokesen eine Gesellschaftsstruktur, die starke matriarchale Elemente enthält. Frauen besitzen das Land und die Häuser und spielen eine entscheidende Rolle bei der Auswahl der Häuptlinge.

  • Afrikanische Gesellschaften: In einigen afrikanischen Gemeinschaften wie den Akan in Ghana wird die Erbfolge ebenfalls matrilinear vererbt. Frauen haben signifikante politische und soziale Macht.

Matriarchale Elemente und ihre Auswirkungen

Matriarchate und Gesellschaften mit matriarchalen Elementen zeigen, dass Frauen in der Lage sind, effektiv zu führen und Entscheidungen zu treffen, die das Wohl der Gemeinschaft fördern. Diese Systeme betonen oft Werte wie Zusammenarbeit, Gleichheit und Nachhaltigkeit. Studien haben gezeigt, dass Gemeinschaften mit stärkerer Frauenbeteiligung oft stabilere und friedlichere Gesellschaften sind.

  • Wirtschaftliche Stabilität: Untersuchungen der Minangkabau-Gesellschaft zeigen, dass die matrilineare Struktur zu einer stabilen Verteilung von Ressourcen führt, die Armut verringert und wirtschaftliche Sicherheit erhöht.

  • Gesundheit und Bildung: Gesellschaften mit höherer Frauenbeteiligung haben oft bessere Gesundheits- und Bildungsergebnisse. Eine Studie der WHO aus dem Jahr 2018 fand heraus, dass in Gemeinschaften mit starker weiblicher Beteiligung die Kindersterblichkeitsrate niedriger und die Einschulungsrate höher ist.

Diese Beispiele und Daten zeigen, dass matriarchale Strukturen eine realistische und funktionierende Alternative zu patriarchalen Systemen darstellen können, indem sie soziale und wirtschaftliche Stabilität fördern und die Gleichstellung der Geschlechter unterstützen.

Was ist ein Patriarchat?

Das Patriarchat ist ein soziales System, in dem Männer die dominante Rolle in Führung, Entscheidungsfindung und Strukturierung der Gesellschaft innehaben. Dieses System ist zurzeit weltweit vorherrschend und tief in vielen Kulturen und Gesellschaften verankert. Männer haben in patriarchalen Gesellschaften typischerweise mehr Macht und Einfluss in Politik, Wirtschaft und Familie. Patriarchale Strukturen führen oft zu einer ungleichen Verteilung von Ressourcen und Rechten, wobei Frauen und andere marginalisierte Gruppen benachteiligt werden.

Westliche Gesellschaften

Viele westliche Länder haben eine lange Geschichte patriarchaler Strukturen, in denen Männer traditionell die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen treffen.

  • Politik: Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren Frauen in den meisten westlichen Demokratien vom Wahlrecht ausgeschlossen. In der Schweiz erhielten Frauen erst 1971 auf Bundesebene das Wahlrecht.

  • Wirtschaft: Auch heute noch besteht eine erhebliche Geschlechterungleichheit in Führungspositionen. Laut einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind nur 27 % der Führungspositionen weltweit von Frauen besetzt (ILO, 2019).

  • Bildung: Bis ins späte 19. und frühe 20. Jahrhundert hinein war Frauen in vielen westlichen Ländern der Zugang zu höherer Bildung verwehrt. Heute zeigt sich zwar eine Annäherung, doch in einigen Bereichen, insbesondere in den MINT-Fächern, besteht weiterhin ein Ungleichgewicht.

Indien und der Mittlere Osten

In vielen Teilen Indiens und des Mittleren Ostens sind patriarchalische Normen stark verankert, mit strengen Geschlechterrollen und eingeschränkten Rechten für Frauen.

  • Gesetzgebung: In vielen Ländern dieser Regionen spiegeln Gesetze die patriarchalische Struktur wider. Frauen haben etwa in Saudi-Arabien erst seit 2015 das Wahlrecht, und das Rechtssystem in vielen Teilen Indiens bevorzugt Männer in Erbschaftsfragen.

  • Soziale Normen: Geschlechterrollen sind oft strikt definiert, und Frauen haben eingeschränkte Freiheiten. In Indien ist die Praxis der Mitgift noch immer weitverbreitet, was Frauen ökonomisch benachteiligt und zu erheblichem sozialem Druck führt.

  • Bildung und Gesundheit: Laut UNICEF haben Mädchen in ländlichen Regionen Indiens und im Mittleren Osten oft weniger Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung als Jungen. Eine Studie aus dem Jahr 2020 zeigte, dass die Alphabetisierungsrate unter Frauen in ländlichen Gebieten Indiens nur bei etwa 50 % liegt, verglichen mit 74 % bei Männern (UNICEF, 2020).

Auswirkungen patriarchaler Strukturen

Patriarchale Strukturen haben tiefgreifende Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens und führen zu systematischer Benachteiligung und Ungleichheit:

  • Wirtschaftliche Benachteiligung: Frauen verdienen weltweit im Durchschnitt 23 % weniger als Männer. Dieser Gender Pay Gap wird durch die ungleiche Verteilung von unbezahlter Hausarbeit und Pflegearbeit verstärkt, die überwiegend von Frauen geleistet wird (UN Women, 2020).

  • Politische Unterrepräsentation: Frauen sind in politischen Entscheidungspositionen stark unterrepräsentiert. Laut dem Weltwirtschaftsforum sind Frauen in nationalen Parlamenten weltweit nur zu 25 % vertreten (WEF, 2021).

  • Gewalt gegen Frauen: Patriarchale Strukturen tragen zur Aufrechterhaltung von Gewalt gegen Frauen bei. Weltweit erfahren etwa 35 % der Frauen im Laufe ihres Lebens physische oder sexuelle Gewalt (WHO, 2021).

  • Gesundheit: Der Zugang zu reproduktiver Gesundheitsversorgung und Familienplanung hat sich in vielen patriarchalen Gesellschaften als Herausforderung erwiesen, was zu höheren Raten von Müttersterblichkeit und ungewollten Schwangerschaften führt (Guttmacher Institute, 2020).

Das Patriarchat als vorherrschendes System führt zu tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten. Die Überwindung patriarchaler Strukturen und die Förderung der Gleichberechtigung sind daher essenziell für eine gerechtere und nachhaltigere Zukunft. Nur durch eine faire Verteilung von Macht und Ressourcen und die Anerkennung der Fähigkeiten und Beiträge aller Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, kann eine wirklich gleichberechtigte Gesellschaft entstehen.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Matriarchat und Patriarchat

Gemeinsamkeiten

  • Hierarchische Strukturen: Beide Systeme basieren auf hierarchischen Strukturen, die eine Geschlechtergruppe gegenüber der anderen bevorzugen.

  • Machtkonzentration: Sowohl Matriarchate als auch Patriarchate konzentrieren Macht und Ressourcen in den Händen einer bestimmten Geschlechtergruppe.

Unterschiede

  • Machtverteilung: In Matriarchaten haben Frauen die Macht, während in Patriarchaten Männer dominieren.

  • Erbfolge: Matriarchate folgen oft einer matrilinearen Erbfolge, während Patriarchate einer patrilinearen Erbfolge folgen.

  • Soziale Rollen: Geschlechterrollen sind in Matriarchaten oft flexibler, während in Patriarchaten strikte geschlechtsspezifische Erwartungen herrschen.

Aber was bedeutet wahre Gleichberechtigung?

Wahre Gleichberechtigung bedeutet, dass Männer und Frauen gleichberechtigten Zugang zu Rechten, Ressourcen und Möglichkeiten haben, unabhängig von ihrem Geschlecht. Es geht darum, Barrieren abzubauen, die eine Geschlechtergruppe benachteiligen, und sicherzustellen, dass alle Menschen ihre Potenziale voll ausschöpfen können.

Studien zeigen, dass Gleichberechtigung positive Auswirkungen auf Gesellschaften hat. Laut einem Bericht des Weltwirtschaftsforums fördern Länder mit höherer Gleichstellung der Geschlechter Wirtschaftswachstum, haben niedrigere Kriminalitätsraten und eine höhere allgemeine Zufriedenheit ihrer Bürger. Eine andere Studie aus Schweden zeigt, dass Väter, die Elternzeit nehmen, eine positivere Beziehung zu ihren Kindern haben und dies auch positive Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder hat.

Und warum kann nur Gleichberechtigung zu einer besseren Welt führen?

Gleichberechtigung schafft eine Basis, auf der alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht die gleichen Möglichkeiten haben, ihre Fähigkeiten und Talente zu entwickeln. Es fördert eine gerechtere Verteilung von Macht und Ressourcen und schafft ein Umfeld, in dem Vielfalt und Inklusion gedeihen können.

  • Wirtschaftlicher Wohlstand: Länder mit höherer Geschlechtergleichstellung verzeichnen oft ein höheres Wirtschaftswachstum.

  • Soziale Gerechtigkeit: Eine gleichberechtigte Gesellschaft ist gerechter und friedlicher.

  • Individuelles Wohlbefinden: Menschen in gleichberechtigten Gesellschaften berichten von höherer Zufriedenheit und Lebensqualität.

Schlussfolgerung: Matriarchat ist auch nicht besser. Gleichberechtigung schon?

Die Diskussion über Geschlechtergerechtigkeit und Machtverhältnisse in der Gesellschaft zeigt deutlich, dass weder das Patriarchat noch das Matriarchat eine ideale Lösung darstellen. Beide Systeme, obwohl unterschiedlich in ihrer Machtverteilung und sozialen Rollen, basieren auf hierarchischen Strukturen, die eine Geschlechtergruppe gegenüber der anderen bevorzugen und Macht und Ressourcen ungleich verteilen. Während das Patriarchat durch die systematische Benachteiligung von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen zu tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten führt, bietet auch ein Matriarchat keine vollkommene Lösung. Es ersetzt lediglich eine Form der Dominanz durch eine andere.

Ein Blick auf Gesellschaften mit matriarchalen Elementen, wie die Mosuo in China und die Minangkabau in Indonesien, zeigt zwar positive Aspekte wie wirtschaftliche Stabilität und höhere Bildungsergebnisse, doch die zentrale Frage bleibt, ob die blosse Umkehrung der Machtverhältnisse wirklich zu einer gerechteren Gesellschaft führt. Diese Beispiele demonstrieren, dass Frauen in der Lage sind, effektiv zu führen und Entscheidungen zu treffen, die das Wohl der Gemeinschaft fördern. Dennoch bleibt die Konzentration der Macht in den Händen einer Geschlechtergruppe problematisch.

Die wahre Lösung liegt in der Gleichberechtigung. Studien und Berichte, wie die des Weltwirtschaftsforums, belegen, dass Gesellschaften mit höherer Geschlechtergleichstellung wirtschaftlich prosperieren, niedrigere Kriminalitätsraten aufweisen und eine höhere allgemeine Zufriedenheit ihrer Bürger verzeichnen. Gleichberechtigung bedeutet, dass Männer und Frauen gleichberechtigten Zugang zu Rechten, Ressourcen und Möglichkeiten haben. Dies fördert eine gerechtere Verteilung von Macht und Ressourcen und schafft ein Umfeld, in dem Vielfalt und Inklusion gedeihen können.

Nelson Mandela’s Zitat unterstreicht die Notwendigkeit, Barrieren abzubauen, die eine Geschlechtergruppe benachteiligen, und sicherzustellen, dass alle Menschen ihre Potenziale voll ausschöpfen können. Eine gleichberechtigte Gesellschaft ermöglicht es allen, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihre Fähigkeiten und Talente zu entwickeln, was nicht nur zu individuellem Wohlbefinden führt, sondern auch zu einem kollektiven wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt.

Die Lösung liegt nicht in einem matriarchalen oder patriarchalen System, sondern in der Schaffung einer gleichberechtigten Gesellschaft. Nur durch echte Gleichberechtigung kann eine gerechtere, friedlichere und wohlhabendere Welt entstehen, in der alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht die gleichen Chancen und Rechte geniessen.