Sind wir bereit für die Verfassung der Gleichheit? Ein Text über die Aufhebung der Geschlechter in der Schweizer Bundesverfassung

Was wäre, wenn wir unsere Bundesverfassung genau hier neu beginnen liessen? Nicht mehr mit «Männer und Frauen sind gleichberechtigt», sondern mit: «Vor der Verfassung sind alle gleich.» Ohne binären Verweis. Ohne «und», «oder» oder «dazwischen». Einfach: gleich. Nicht, um Unterschiede zu leugnen – biologische, emotionale, soziale. Sondern um das tiefste Versprechen unseres Zusammenlebens neu zu fassen: Dass niemand durch seine Geschlechtszugehörigkeit mehr oder weniger zählt. Nicht vor dem Recht, nicht vor dem Staat, nicht vor dem Leben.

«Vor der Verfassung sind alle gleich – unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Lebensweise oder Glaube. Denn der Mensch ist zuerst Mensch – und dann alles andere.» Fotografie: Daniel Frei

«Vor der Verfassung sind alle gleich – unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Lebensweise oder Glaube. Denn der Mensch ist zuerst Mensch – und dann alles andere.» Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei - Vor der Verfassung sind alle gleich. Ein einfacher Satz, nicht simpel und ein revolutionärer dazu. Was wäre, wenn wir die Schweizer Bundesverfassung an genau dieser Stelle neu beginnen liessen? Nicht mit «Männer und Frauen», sondern mit: «Vor der Verfassung sind alle gleich.» Kein Geschlecht. Kein binärer Verweis. Kein «und». Kein «oder». Kein «dazwischen». Ein fundamentaler Reset. Nicht, um biologische oder gesellschaftliche Realitäten zu leugnen. Sondern um das tiefste Versprechen unseres Zusammenlebens neu zu verankern: Gleichheit.

Die Kraft der Formulierung

Verfassungen sind keine Gedichtbände. Und doch hängt an jedem Wort Gewicht. Wenn ein Text wie «Mann und Frau sind gleichberechtigt» in der Verfassung steht, ist das historisch ein Fortschritt. Ein Resultat des langen Kampfes für Gleichstellung. Ein Schutzmechanismus, der einst notwendig war – und vielleicht immer noch ist. Und gleichzeitig konserviert dieser Satz auch die Kategorie, die wir überwinden möchten: das Geschlecht als primäre Ordnungskategorie. Wir sprechen von Gleichheit, differenzieren aber von Anfang an: Männer – und Frauen. Als ob diese Differenz immer und überall entscheidend sei. Als ob sie am Anfang jeder Betrachtung stehen müsste. Dabei wissen wir heute, dass Identitäten fliessender sind. Dass Menschen sich ausserhalb oder jenseits dieser Binarität definieren. Dass es intergeschlechtliche Menschen gibt. Dass Geschlecht nicht nur ein Körper, sondern auch ein Gefühl, ein soziales Konstrukt, ein Zuschreiben ist – und zugleich biologisch nicht irrelevant.

Ein einziger Satz – «vor der Verfassung sind alle gleich» – würde die Verfassung nicht entleeren. Er würde sie öffnen. Für alle.

Gleichheit heisst nicht Gleichmacherei

Es ist ein Missverständnis, zu glauben, eine solche Formulierung negiere alle geschlechtsspezifischen Bedürfnisse, Probleme, Diskriminierungen oder Differenzen. Im Gegenteil: Medizin bleibt geschlechterspezifisch relevant. Herzinfarkte zeigen sich bei Frauen anders als bei Männern. Medikamente wirken unterschiedlich. Im Sport gelten geschlechtliche Unterschiede als Basis für faire Wettbewerbe. Auch hier ist Trennung manchmal sinnvoll – oder neue, kreative Mischformen nötig. Im Strafrecht, in der Gewaltprävention, in der Pädagogik – überall dort, wo geschlechtsspezifische Lebensrealitäten entscheidend sind, dürfen und müssen Differenzierungen erhalten bleiben.

Aber: diese Differenzierungen ergeben sich aus Sachlagen – nicht aus der Verfassung. Die Verfassung soll nicht alles regeln. Sie soll ermöglichen. Und wenn sie zu eng denkt, dann werden jene, die nicht ins Raster passen, ausgeschlossen.

Der normative Horizont

Ein solcher Verfassungsreset ist nicht bloss juristische Präzision. Er ist eine Vision. Er sagt: Das Gemeinwesen definiert den Menschen nicht über sein Geschlecht. Er sagt: Unsere tiefste rechtliche Grundlage nimmt sich die Freiheit, alle Menschen als Menschen zu denken. Er sagt: Wenn wir unterscheiden, dann tun wir es aus Gründen – nicht aus Gewohnheit. Ein solcher Schritt hätte Signalwirkung. Symbolkraft. Er würde Schulen, Behörden, Firmen, Medien daran erinnern: Wir alle sind gleich – nicht als Männer und Frauen. Sondern als Menschen.

Die Angst vor der Auflösung

Natürlich gibt es Widerstand. Die Angst, dass mit der Aufhebung der Geschlechter alles verschwimmt, alles beliebig wird. Doch Gleichheit bedeutet nicht Beliebigkeit. Es bedeutet: Nicht das Geschlecht entscheidet über Rechte und Pflichten, sondern das Menschsein. Das ist anspruchsvoll. Weil es Differenz nicht ignoriert, sondern anerkennt – und zugleich in Gleichheit überführt. Wir müssen lernen, komplexer zu denken. Ein Mensch kann schwanger werden – unabhängig vom Ausweis. Ein anderer kann im Frauenhaus Schutz suchen – unabhängig von Genitalien. Diese Realität ist keine Bedrohung. Sie ist eine Herausforderung an unsere Sprache, an unsere Logik, an unsere Rechtsprechung.

Helvetia die Pionierin?

Die Schweiz war spät dran mit dem Frauenstimmrecht. Aber sie könnte früh dran sein mit einer postgeschlechtlichen Verfassungsformulierung. Das wäre typisch schweizerisch – nicht im Sinn von vordergründigem Fortschritt, sondern in ruhiger, nüchterner Präzision. Wir ändern nicht die Realität. Wir ändern die Grundlage, auf der wir sie verhandeln. Wir schaffen einen Verfassungstext, der niemanden mehr ausschliesst. Der nicht mehr zwischen Mann und Frau unterscheidet, sondern das Gemeinsame als Mensch ins Zentrum stellt.

Eine solche Schweiz wäre nicht geschlechtslos. Aber sie wäre geschlechtsneutral in der Beurteilung. Kinder würden weiter lernen, dass ihr Wert und ihre Möglichkeiten nicht an ihr Geschlecht gebunden ist. Behörden würden Menschen nicht mehr zuerst in M oder F einteilen, sondern fragen: Was brauchst du? Politik würde Gesetze machen, die sich an Lebensrealitäten orientieren – nicht an Kategorien. Es gäbe weiterhin Frauenförderung, wenn Frauen strukturell benachteiligt sind. Es gäbe spezifische Schutzräume, wo nötig. Aber das alles wäre eine Reaktion auf Fakten – nicht auf verfassungsmässige Schablonen. Diese Welt wäre freier. Nicht einfacher. Aber gerechter. Weil sie nicht vorgibt, wer du bist – sondern anerkennt, dass du es selbst definieren darfst.

Die Gleichheit als Beginn, nicht als Ende

Die Aufhebung des Geschlechts in der Verfassung ist kein radikaler Bruch mit der Realität. Es ist ein radikaler Bruch mit alten Denkformen. Ein Anfang. Kein Ende. Ein neuer Satz, vielleicht sogar ein schönerer: «Vor der Verfassung sind alle gleich – unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Lebensweise oder Glaube. Denn der Mensch ist zuerst Mensch – und dann alles andere.»

Vielleicht ist es Zeit.