Adieu Heroik: Warum neue Führung nicht auf Antworten sondern Präsenz beruht

Führung galt lange als Frage der Stärke. Aber Stärke genügt nicht mehr. Was heute zählt ist Präsenz. Nicht die heroische und allwissende Führungsperson mit dem Plan, sondern der Mensch mit offenem Ohr, weitem Blick und der Fähigkeit, auszuhalten, statt zu kontrollieren. Eine neue Erzählung von Führung – leiser, echter, wirksamer.

Neue Führung: Die Heldenerzählung hat ausgedient. Fotograf:in: unbekannt

Daniel Frei — Führung galt, und gilt für viele nach wie vor, als ein Akt der Stärke: Wer führt, hat eine Vision, trifft Entscheidungen, trägt Verantwortung – und hält alles zusammen. Doch diese Vorstellung bröckelt. Nicht weil sie schwach war, sondern weil sie sich überlebt hat. Nicht der schnell entscheidende Mensch wird vornehmlich gebraucht, sondern der aufmerksam Begleitende. Präsenz ersetzt Plan, Beziehung ersetzt Richtung. Und wer führen will, muss bereit sein, nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen.

Die Heldenerzählung hat ausgedient

Über Jahrzehnte hinweg haben wir Führung mit Klarheit, Richtung und Autorität assoziiert. Die archetypische Führungsperson – ob CEO, Kanzlerin oder Team-leitend – sollte wissen, wohin es geht, wie man dorthin kommt und was unterwegs zu tun ist. Oder zumindest so tun.

Diese Vorstellung passte zu einer Welt, in der Stabilität als Normalzustand galt. Strategiepläne hatten Fünfjahreshorizonte, nicht nur in Kommunismus. Hierarchien gaben Orientierung, Kennzahlen schufen Sicherheit. Der Mensch als rational handelndes Subjekt konnte – so die Annahme – mit dem richtigen Führungsstil gesteuert und entwickelt werden.

Aber heute ist vieles nicht mehr steuerbar. Systeme sind vernetzt, Veränderungen sind sprunghaft, Komplexität ist keine Ausnahme, sondern die Regel. In dieser Realität wirkt die klassische Heldenerzählung nicht nur hilflos – sie wird zur Gefahr. Denn wer vorgibt, alles zu wissen, verhindert, dass sich das zeigt, was wirklich gebraucht wird.

Von der Führungskraft zur Präsenzkraft

Neue Führung beginnt nicht mit der besseren Lösung, sondern mit einem anderen Selbstverständnis. Sie definiert sich nicht mehr durch Überlegenheit, sondern durch Beziehung. Die zentrale Qualität ist nicht mehr Kompetenz im klassischen Sinne, sondern Präsenz. Damit ist kein Coachingbegriff gemeint, sondern eine Haltung: präsent sein im Moment, offen für das, was sich zeigt, aufnehmend statt sendend, haltend statt antreibend.

Präsenz ist kein Rückzug aus der Verantwortung. Sie ist Voraussetzung dafür, Verantwortung in komplexen, dynamischen Kontexten überhaupt wahrzunehmen. Wer präsent ist, hört besser, sieht mehr, urteilt später – und entscheidet bewusster. Führung heisst in diesem Sinn nicht, schneller zu handeln, sondern länger zu bleiben und auszuhalten.

Die Antwort ist nicht die Antwort

Es mag geradezu Provokant wirken, wenn eine Führungskraft sagt: «Ich weiss es noch nicht.» Und genau darin liegt eine neue Stärke. Nicht alles, was unklar ist, muss sofort gelöst werden. Und nicht jede Herausforderung braucht eine Antwort – manche brauchen erst einmal einen Raum.

Die Versuchung, durch schnelle Antworten Kontrolle zu suggerieren, ist menschlich. Doch sie verhindert oft, dass eine Organisation das entwickeln kann, was sie wirklich braucht: kollektive Intelligenz, tragfähige Beziehungen, emotionale Sicherheit. Wer sofort antwortet, schliesst ab. Wer präsent bleibt, öffnet.

Vertrauen entsteht nicht durch Richtung, sondern durch Resonanz

Führung, wie wir sie bisher kannten, baute auf Richtung: Wer wusste, wo es langgeht, wurde gehört. Aber in unserer  hochkomplexen Welt ist weniger entscheidend, wohin wir gehen – sondern wie wir gehen. Resonanz ersetzt Richtung. Menschen folgen heute weniger Ideen als Atmosphären, Vibes. Es geht nicht mehr um das überzeugendste Argument, sondern um das Vertrauen, dass jemand zuhört, aushält, einbettet, nicht vorschnell urteilt.

Präsenz schafft genau dieses Vertrauen. Sie ist der Humus, auf dem alles andere wachsen kann – Innovation, Klarheit, Zusammenarbeit.

Führung, die nicht mehr führen muss

Die vielleicht grösste Verschiebung liegt darin, dass Führung oft dann am wirksamsten ist, wenn sie sich selbst überflüssig macht. Das ist kein Rückzug – im Gegenteil. Es ist eine hohe Kunst: Menschen so zu begleiten, dass sie sich selbst führen können und dabei sicher fühlen. Teams so zu formen, dass sie ohne Steuerung entscheiden. Räume so zu halten, dass sich darin Orientierung bildet. Die heroische Führungsperson stand im Zentrum. Die neue Führungskraft steht im Hintergrund. Nicht, weil sie keine Verantwortung übernimmt – sondern weil sie weiss, dass Verantwortung nicht Kontrolle heisst.

Führung im 21. Jahrhundert: kein heroischer Akt mehr, sondern ein empathischer Prozess. Sie verlangt nicht das grosse Wort, sondern das offene Ohr. Nicht den Masterplan, sondern die Bereitschaft, Prozesse zu begleiten, die man nicht kontrollieren kann. Wer führen will, braucht keine überlegene Haltung – sondern eine leere, präsente. Das ist anspruchsvoller als jede Strategie. Und auch ehrlicher. Und vielleicht das Beste, was uns – und den Organisationen, in denen wir arbeiten – passieren kann.

 

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