Vor dem Gipfel ist der Nebel oft am dichtesten: Warum Unsicherheit der ultimative Führungstest ist
Die grössten Herausforderungen im Leben und in der Führung tauchen oft kurz vor dem Durchbruch auf. Eben noch war der Weg klar, die Strategie erkennbar, das Ziel zum Greifen nah – und dann: Nebel. Zweifel verdichten sich, Orientierung geht verloren, jeder Schritt wird zur Entscheidung über Fortschritt oder Rückzug. Aber Führung bedeutet nicht, nur in klarem Wetter voranzugehen. Die wahre Prüfung liegt im Umgang mit Unsicherheit. Was tun, wenn Strategien ins Wanken geraten? Wenn sich Märkte unvorhersehbar verändern? Wenn Teams an der Vision zweifeln? Die Antwort liegt nicht in perfekter Planung, sondern in Prinzipien, die auch dann tragen, wenn nichts mehr sichtbar ist. Visionen allein bringen niemanden nach oben. Der Weg dorthin besteht aus Trittsicherheit, Beharrlichkeit und der Fähigkeit, auch im Ungewissen mutig voranzugehen.
Der Nebel lügt. Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Es gibt Momente, in denen der Blick sich verliert. Der schwindende Horizont, wenn Sichtbarkeit zur Prüfung wird. Eben noch war die Richtung klar, der Weg erkennbar, das Ziel zum Greifen nah. Doch dann taucht er auf – der Nebel, lautlos, formlos, unerbittlich. Die Welt schrumpft auf einen Radius, in dem sich die Füsse tasten müssen.
Die Linie zwischen Aufstieg und Abstieg verwischt. Zweifel steigen auf, schwärzer als die Nacht: Bin ich hier richtig? Ist das noch Weg oder bereits Abgrund? «Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter.» Winston Churchill wusste um den Nebel. Er ist kein Zeichen des Endes, sondern ein Prüfstein. Die Sicht wird nicht genommen, um den Weg zu verwehren, sondern um die Entschlossenheit zu testen. Wer jetzt kehrt ,acht, kehrt für immer um.
Wie bleibt man auf Kurs, wenn der Horizont verschwindet?
Hier trennt sich, wer bloss Ideen oder Pläne hatte, von jenen mit Prinzipien. Pläne zerfallen im Nebel. Prinzipien leuchten hindurch. Die Berge interessieren sich nicht für den Willen des Einzelnen. Sie sind da – mit Wind, Kälte und Geröll. Sie kümmern sich nicht um Sitzungen, Projekte, Businesspläne, Jahresabschlüsse, Wahlprognosen oder Strategiepapiere. Sie verlangen nicht nach Absichtserklärungen. Sie fordern Schritte.
Der Weg nach oben wird nicht durch Visionen gemeistert, sondern durch Trittsicherheit, Konsistenz, Durchhaltewillen. Wer auf jeder Stufe zweifelt, rutscht ab. Wer sich in der Ferne verliert, stolpert über das Naheliegende. Wer nur auf den Gipfel fixiert ist, verpasst die Spalte direkt vor seinen Füssen. Und dann kommt der Augenblick, in dem man innehält. Weil die Kraft nachlässt. Weil der Kopf nicht mehr mitzieht. Weil sich die Frage aufdrängt: Warum tue ich das?
Dies ist der Moment der Wahrheit. In Unternehmen, in Wissenschaft, in Politik, in Kunst, im Leben. Der Punkt, an dem sich der bequeme Rückweg gegen die unbequeme Weiterreise stellt. Hier entscheidet sich, ob eine Idee nur ein Traum bleibt oder zur Realität wird. Nietzsche: «Du musst noch Chaos in dir haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.» Und Chaos ist nichts anderes als eine Welt im Nebel. Die Frage ist also: Verzweifelt man daran – oder tanzt man hindurch?
Der Mythos der Sichtbarkeit – oder, warum man nicht alles sehen muss
Führung wird mit Klarheit verwechselt. Entscheidungen, die wirken, als wären sie von der Bergspitze aus getroffen worden, vom Feldherrenhügel, unter klarem Himmel, mit weitem Blick. Doch die Wahrheit ist eine andere: Die meisten Entscheidungen fallen im Nebel. Alles andere ist Selbstbetrug. Christus wanderte 40 Tage durch die Wüste. Moses stand im Nebel des Sinai. Buddha sass unter dem Baum, als die Welt um ihn dunkel wurde. Jene, die später als Leuchttürme galten, irrten zuerst durch Dunst und Zweifel. Der Nebel ist keine Strafe, sondern eine Schule.
Was sieht man wirklich, wenn man nichts mehr sieht? Die Antworten kommen, wenn der Blick gezwungen wird, nach innen zu gehen. Was bleibt von einer Führungspersönlichkeit, wenn ihre Position unsichtbar wird? Was bleibt von einer Strategie, wenn ihre äusseren Eckpfeiler verschwimmen? Diejenigen, die nur leiten können, wenn sie klar sehen, sind keine Anführenden – sie sind nur Touristinnen und Touristen mit einem gut ausgearbeiteten Reiseführer. Aber wer auch im Nebel weitergeht, entdeckt.
Der Nebel lügt
Es gibt einen Moment, in dem alles nach Stillstand aussieht. Der Körper sagt: Es geht nicht weiter. Die Zahlen sagen: Der Markt ist tot. Die Umfragen sagen: Die Wahl ist verloren. Die Zeichen stehen auf Rückzug. Doch Nebel ist keine Wand. Er ist ein Schleier. Und Schleier lüften sich. Dann taucht eine Kontur auf – ein Fels, ein Grat, ein Ankerpunkt. Und plötzlich stiftet alles Sinn. Die dichte Schwärze war nicht das Ende, sondern nur der letzte Test.
Der Nebel wollte wissen: Wie sehr willst du es?
In diesen Momenten trennt sich, wer nur den Gipfel wollte, von jenen, die den Aufstieg wirklich leben. Wer durch den Nebel gegangen ist, steht am Ende nicht nur höher, sondern auch anders da. Weil er weiss:
Das Licht war nie fort. Es war nur verborgen.