Warum Steuern und Umverteilung notwendig sind: Selbsterhaltung statt Altruismus

Steuern und finanzielle Umverteilung sind weit mehr als ein Mittel zur Förderung sozialer «Verantwortung» – sie sind essenziell für die Stabilität und Sicherheit eines Systems, das den Wohlstand aller, einschliesslich der Reichsten, absichert. Historische und aktuelle Beispiele belegen: Wenn Wohlstand bei wenigen konzentriert ist und das soziale Gleichgewicht kippt, drohen Unruhen, die am Ende auch die Reichsten treffen können. Welche Mechanismen schützen also eine Gesellschaft und ihren Wohlstand? Ein Blick auf die Geschichte und die Gegenwart zeigt: Solidarische Abgaben wie Steuern sind nicht nur notwendig, sondern entscheidend, um sozialen Frieden und langfristige Stabilität zu sichern.

Ein System ohne solidarische Abgaben wird kippen und riskiert dabei auch den Wohlstand der Reichsten. Künstler:in: unbekannt - Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Die Frage nach dem Zweck und Wert von Steuern und finanzieller Umverteilung geht weit über das Thema sozialer «Verantwortung» hinaus. Sie betrifft das Überleben eines Systems, das für alle, einschliesslich der Wohlhabenden, Sicherheit bietet. Historische und moderne Beispiele zeigen: Ein System ohne solidarische Abgaben wird kippen und riskiert dabei auch den Wohlstand der Reichsten. Doch wie hängt das alles zusammen?

Die Lehren der Geschichte: Stabilität durch soziale Balance

In ihrem Werk «The Lessons of History» analysieren die Historiker Will und Ariel Durant wiederkehrende Zyklen von Macht und Reichtum. Eine ihrer zentralen Aussagen ist, dass jedes System an Stabilität verliert und kollabieren kann, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich zu groß wird. Wenn ein kleiner Teil der Bevölkerung den Großteil der Ressourcen kontrolliert, steigen Unzufriedenheit und die Gefahr von sozialen Unruhen. Die Geschichte zeigt, dass sich aus solchen Spannungen oft Revolutionen und Umverteilungen entwickelten – häufig mit drastischen Folgen für alle Beteiligten.

Für die Durants existiert Wohlstand nie losgelöst von den gesellschaftlichen Bedingungen. Stabilität und Sicherheit, auch für Reiche, sind in einem System verankert, das sozialen Frieden gewährleistet – und dies erfordert Pflege und Rücksicht. Steuern und Umverteilung sind daher essenzielle Mechanismen, um den Wohlstand in einer Gesellschaft fliessen zu lassen, statt ihn bei einer kleinen Gruppe zu konzentrieren und so langfristige Spannungen zu vermeiden.

Steuern: ein Beitrag zur Stabilität und Sicherheit für alle

In demokratischen Gesellschaften erfüllen Steuern zwei entscheidende Funktionen: Sie finanzieren öffentliche Dienste und gleichen soziale Ungleichheiten aus. Bildung, Infrastruktur und Gesundheitsdienste schaffen eine Grundlage für ein funktionierendes Leben und Arbeiten für alle Bürger:innen. Wohlhabende Menschen, die Steuern zahlen, tragen dazu bei, die Stabilität und das Wachstumspotenzial der gesamten Gesellschaft zu sichern. Ohne diese Basisdienstleistungen wächst in der Bevölkerung das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und des «Zurückgelassenwerdens».

Dieses Gefühl wird besonders gefährlich, wenn Menschen glauben, dass sie selbst und ihre Kinder keine Zukunft haben. In solchen Situationen steigt das Risiko von Unruhen. Wohlstand bedeutet auch, in eine Gesellschaft eingebettet zu sein, die Stabilität und Sicherheit bieten kann – und die Bereitschaft, einen gerechten Anteil abzugeben, ist eine Investition in diesen Schutz.

Selbstlosigkeit oder Selbsterhaltung? Die Rolle der Superreichen

Grosse Spendenaktionen und Stiftungen von Superreichen wie Jeff Bezos, Elon Musk oder Bill Gates werden oft als altruistische Gesten dargestellt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass diese Form der «Selbstlosigkeit» Grenzen hat. Philanthropie wird oft genutzt, um Verantwortung und Fürsorge zu symbolisieren. Doch im Gegensatz zu Steuern unterliegen Spendenaktionen nicht der demokratischen Kontrolle – Milliardäre bestimmen allein, wohin ihr Geld fliesst und welche Projekte sie unterstützen.

Während diese Stiftungen positive Effekte haben können, bleibt ihre Einordnung als freiwillige, steuerlich absetzbare Aktivitäten kritisch. Letztlich behalten die Superreichen die Macht, da ihr Geld ausserhalb des staatlichen Steuerapparates bleibt. Sie setzen sich zwar für Gesundheit und Bildung in ausgewählten Bereichen ein, doch diese philanthropischen Projekte umgehen öffentliche, demokratisch regulierte Institutionen. Solche Modelle helfen kurzfristig, lösen jedoch kaum das Grundproblem der strukturellen Ungleichheit und verhindern langfristig nicht die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

Zunehmende Ungleichheit als Risiko für sozialen Frieden

In den letzten Jahren gab es weltweit zahlreiche Proteste, die sich gegen Ungleichheit und Armut richteten. Die Gilets jaunes-Bewegung in Frankreich oder Demonstrationen gegen Korruption und wirtschaftliche Ungleichheit in Chile und Hongkong sind Beispiele dafür, wie stark das Gefühl der Benachteiligung und die wachsende Schere zwischen Arm und Reich zu sozialen Spannungen führen können. Auch wenn sich Wohlhabende in Sicherheit wähnen, sind sie letztlich nicht immun gegenüber den Risiken, die ein soziales Ungleichgewicht mit sich bringt.

Studien zeigen, dass Menschen in einer Gesellschaft mit grosser sozialer Ungleichheit stärker unter Stress und gesundheitlichen Belastungen leiden. Das betrifft nicht nur die Armen, sondern auch die Wohlhabenden, die in einem solchen Klima unter ständiger Bedrohung leben. Ein Ungleichgewicht destabilisiert die Gesellschaft und führt zu Polarisierung – Faktoren, die letztlich auch den Reichtum der oberen Schichten bedrohen.

Steuerzahlungen als echte Absicherung für die Zukunft

Wohlhabende Menschen sollten Steuerzahlungen und Umverteilung nicht als notwendiges Übel oder als reine Grosszügigkeit betrachten. Vielmehr können sie darin eine Form der Selbsterhaltung sehen. Eine funktionierende Gesellschaft, in der die Mehrheit Stabilität und Chancen hat, ist die beste Garantie dafür, dass ihr Reichtum sicher bleibt und sie selbst in Frieden leben können. Historische Beispiele und aktuelle Protestbewegungen zeigen, dass soziale Ungleichheit letztlich die Basis für jeden Wohlstand untergräbt. Steuern sind somit nicht nur ein Beitrag zur Gesellschaft – sie sind die Grundlage für den langfristigen Erhalt eines Systems, das Wohlstand überhaupt erst ermöglicht.