Warum «wir» gewonnen hätten, «sie» aber verloren haben

Es gibt kaum ein schöneres Gefühl als den Moment, wenn die eigene Mannschaft gewinnt. Der Schlusspfiff ertönt, und wir schreien, springen, umarmen uns. Plötzlich sind wir alle eine Einheit und ein «Wir»-Gefühl blüht auf. Der Erfolg der Mannschaft wird zu unserem eigenen Erfolg, unser Selbstwertgefühl steigt. Aber wenn «sie» verlieren, sieht es ganz anders aus, und das zeigt sich in unserer Sprache. Warum ist das so?

Warum «wir» gewonnen hätten, «sie» aber verloren haben. Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Es gibt kaum ein schöneres Gefühl als den Moment, wenn die eigene Mannschaft gewinnt. Der Schlusspfiff ertönt, und wir schreien, springen, umarmen uns. Plötzlich sind wir alle eine Einheit und ein «Wir»-Gefühl blüht auf. «Wir haben gewonnen!», verkünden wir stolz und plötzlich spielt es keine Rolle mehr, ob wir die Spieler persönlich kennen, wie tief unsere Fussballkenntnisse sind und ob wir nur Fans des Zeitgeists wegen sind. Wir sind ein Teil des Erfolgs, unser Selbstwertgefühl steigt. Aber warum ist das so?

Das «Wir» im Siegesrausch, der kollektive Jubel, die psychologische Gemeinschaft

Die Identifikation mit einem Siegerteam stärkt unser Gefühl der Zugehörigkeit. Der Erfolg der Mannschaft wird zu unserem eigenen Erfolg. Diese Identifikation ist tief in unserer menschlichen Natur verwurzelt und geht weit über das blosse Zuschauen hinaus. Wir investieren emotional in die Mannschaft, fiebern mit und projizieren unsere Hoffnungen und Träume auf sie. Wenn «unsere» Mannschaft gewinnt, fühlen wir uns bestätigt und stolz, als hätten wir selbst einen Beitrag zu diesem Erfolg geleistet.

Sozialen Identität oder wie Menschen einen Teil ihres Selbstwertgefühls aus ihrer Zugehörigkeit zu Gruppen ableiten

Der kollektive Jubel ist mehr als nur Freude; er ist ein Hochgenuss, den wir gemeinsam erleben. In diesen Momenten fühlen wir uns lebendig und verbunden. Diese kollektive Ekstase wirkt wie ein sozialer Klebstoff. Sie schweisst uns zusammen und schafft eine Gemeinschaft, die über das Spiel hinaus besteht. Der Sozialpsychologe Henri Tajfel prägte den Begriff der sozialen Identität, der beschreibt, wie Menschen einen Teil ihres Selbstwertgefühls aus ihrer Zugehörigkeit zu Gruppen ableiten. Der Sieg «unserer» Mannschaft stärkt diese soziale Identität enorm.

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit

In einer zunehmend anonymen Gesellschaft, in der individuelle Leistungen oft im Vordergrund stehen, sehnen wir uns nach Zugehörigkeit. Diese Zugehörigkeit finden wir in der Gemeinschaft der Fans. Die Siege unserer Mannschaft geben uns das Gefühl, Teil von etwas Grösserem zu sein. Diese Gemeinschaft bietet nicht nur sozialen Halt, sondern auch ein Ventil für Emotionen und Stress. Es ist ein sicherer Raum, in dem wir unsere Gefühle frei ausleben können.

Stolz und Selbstwertgefühl

Die Siege unserer Mannschaft machen uns stolz und geben uns das Gefühl, dass auch wir zu den Gewinner:innen gehören. Der Sportpsychologe Daniel Wann hat gezeigt, dass Fans von erfolgreichen Teams oft ein höheres Selbstwertgefühl haben als Fans von weniger erfolgreichen Teams. Dieser Stolz speist sich aus der tiefen emotionalen Bindung zur Mannschaft und dem gemeinsamen Erleben von Erfolgen. Es ist ein Stolz, der unser Selbstwertgefühl stärkt und uns motiviert, auch in anderen Bereichen unseres Lebens erfolgreich zu sein.

Das «Wir»-Gefühl

Das «Wir»-Gefühl im Siegesrausch ist also mehr als nur eine flüchtige Emotion. Es ist ein komplexes Zusammenspiel von psychologischen und sozialen Faktoren, die tief in unserer menschlichen Natur verwurzelt sind. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit und des kollektiven Hochgenusses zeigt, wie sehr wir als soziale Wesen nach Gemeinschaft streben und wie wichtig uns Erfolg und Anerkennung sind. Durch die Siege unserer Mannschaft erleben wir eine Form von sozialer Bestätigung, die uns in einer oft isolierten Welt Halt und Orientierung gibt. In der Summe zeigt sich, dass der kollektive Jubel und die Identifikation mit einem Siegerteam nicht nur ein Spiegel unserer individuellen Freuden, sondern auch ein Ausdruck unserer tiefen menschlichen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und sozialer Identität sind.

Das «Sie» der Niederlage, der distanzierte Abschied, der Schutzmechanismus

Verlieren aber ist eine andere Geschichte. Der Schlusspfiff ertönt, und die Stimmung kippt. «Sie haben verloren.» Plötzlich sind wir distanziert, als wären wir nur zufällige Beobachtende eines unglücklichen Ereignisses. Das «Wir» weicht einem kühlen «Sie». Warum passiert das? Warum distanzieren wir uns so schnell?

Diese sprachliche Distanzierung ist ein Schutzmechanismus. Niederlagen kratzen an unserem Selbstwertgefühl. Indem wir uns sprachlich von der Mannschaft abgrenzen, vermeiden wir es, uns als Verlierer:innen zu fühlen. Das «Sie» hilft uns, die Enttäuschung und den Schmerz zu externalisieren und nicht zu sehr zu verinnerlichen. Schliesslich sind «sie» es, die versagt haben, nicht «wir».

Die Doppelmoral (der Fangemeinde)

Interessanterweise sind wir im Siegesfall sofort bereit, die Lorbeeren einzuheimsen, obwohl wir kaum Einfluss auf das Spielgeschehen hatten. Es ist ein Widerspruch, der tief in der menschlichen Psyche verwurzelt ist: Im Erfolg sind wir grosszügig mit der Selbstzuordnung, im Misserfolg dagegen äusserst sparsam. Dies offenbart eine gewisse Doppelmoral, die in der Fangemeinde weitverbreitet ist.

Unsere Sprache spiegelt wider, wie sehr wir unsere Hoffnungen und Ängste auf die Mannschaft projizieren. Ein Sieg gibt uns das Gefühl, Kontrolle und Kompetenz zu besitzen – Eigenschaften, die wir gerne mit uns selbst in Verbindung bringen. Eine Niederlage hingegen erinnert uns an unsere eigene Verletzlichkeit und Unzulänglichkeit, weshalb wir diese lieber von uns weisen.

Die sprachliche Selbstoffenbarung: ein Spiegel unserer Identität

Die Art und Weise, wie wir über unsere Mannschaft sprechen, wenn sie gewinnt oder verliert, sagt viel über uns aus. Sie zeigt, wie sehr wir uns nach Zugehörigkeit und Erfolg sehnen und wie sehr wir Niederlagen fürchten. Es ist ein Phänomen, das tief in unserer Identität verwurzelt ist. Indem wir uns sprachlich anpassen, versuchen wir, unsere Selbstwahrnehmung zu schützen und zu stärken.

Letztlich ist es ein Spiegel der menschlichen Natur: Wir suchen Bestätigung und versuchen, Enttäuschungen abzuwehren. Das «Wir» im Sieg und das «Sie» in der Niederlage sind keine zufälligen sprachlichen Eigenheiten, sondern tief verwurzelte psychologische Mechanismen, die unsere Beziehung zu Erfolg und Misserfolg offenbaren. So bleiben wir am Ende – trotz aller Ironie – doch nur Menschen, die nach Anerkennung und Schutz streben.