Wenn Häuser zu Tokens werden. Und was das mit Mürren zu tun hat.
Tokenisierung, Blockchain, digitale Vermögenswerte: Was bedeuten diese Begriffe jenseits der Technik? Warum Tokenisierung mehr ist als Krypto-Jargon, wie sie unser Verständnis von Besitz verändert und warum ein Ort wie Mürren zum Modell für eine menschlichere Wirtschaft werden könnte. Über Besitz, Vertrauen und die neue Ökonomie des Sinns.
Mürren liegt da, wie es seit Jahrhunderten liegt: Auf einem Sonnenplateau, festgehalten zwischen Felsen, Schnee und Himmel. Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Mürren liegt da, wie es seit Jahrhunderten liegt: auf einem Sonnenplateau, festgehalten zwischen Felsen, Schnee und Himmel. Von hier oben scheint die Welt einfach. Häuser, Wege, Gesichter, Jahreszeiten. Und doch ist alles in Bewegung: Besitz, Arbeit, Geld, Vertrauen. Dinge, die man nicht sieht, aber die bestimmen, wem was gehört, wer bleiben kann, wer gehen muss. Das Unsichtbare wird sichtbar.
Früher war Besitz greifbar: ein Stück Land, ein Schlüssel, ein Vertrag im Gemeindearchiv. Heute verschiebt sich dieses Verständnis. Werte werden digital, teilbar, handelbar. Ein Haus kann in hundert digitale Anteile zerlegt werden. Eine Idee in Sekunden über Kontinente reisen. Und plötzlich gehört Mürren, theoretisch, nicht mehr nur den Menschen, die hier leben, sondern auch jenen, die aus der Ferne mitfinanzieren, mitgestalten, mitträumen.
Tokenisierung, heisst das. Ein kompliziertes Wort für etwas, das im Kern einfach ist: Wir lernen, Besitz neu zu denken. Nicht mehr als Abgrenzung, sondern als Teilhabe. Nicht mehr als Status, sondern als Beziehung. Vielleicht ist das die eigentliche Revolution, dass Technik uns zurückführt zu etwas, das wir verloren haben: das Gefühl, dass Wert nicht in Zahlen liegt, sondern in Verbindung. Zwischen Menschen. Zwischen Orten. Zwischen Welten, die sich sonst nie begegnen würden.
Was heisst eigentlich Tokenisierung?
Ein einfaches Wort ist es nicht. Und doch beschreibt es etwas, das viele schon tun, ohne es zu wissen. Wenn jemand Geld an eine Stiftung spendet, ein Crowdfunding unterstützt oder Mitglied eines Vereins wird, dann geschieht im Kern dasselbe: Ein realer Wert wird in ein Symbol verwandelt. In ein Zeichen, das Zugehörigkeit ausdrückt. Ein Token ist genau das: ein digitales Zeichen für einen Anteil an etwas Wirklichem. Ein Stück eines Hauses, einer Solaranlage, einer Idee. Hinterlegt in einem System, das nicht vergisst, wer dazugehört.
Früher hielt man Besitz in der Hand: einen Schlüssel, ein Stück Papier, einen Grundbucheintrag. Heute kann Besitz in Form eines digitalen Eintrags existieren, auf einer sogenannten Blockchain. Das klingt technisch, ist aber im Prinzip ein öffentliches Register, das niemand allein kontrolliert und das von vielen gemeinsam getragen wird. Man könnte also sagen: Tokenisierung ist das, was entsteht, wenn Vertrauen eine neue Form findet. Nicht mehr in der Unterschrift eines Notars, sondern im Eintrag eines Netzwerks.
In Mürren könnte das eines Tages bedeuten: Ein Chalet gehört nicht nur mehr einer Person, sondern vielen. Vielleicht jenen, die hier wohnen, arbeiten, Ferien verbringen, oder einfach die Berge lieben. Jede und jeder hält einen kleinen Anteil. Nicht, um zu spekulieren, sondern um beizutragen. So wird ein Haus zu einem gemeinsamen Projekt. Ein Dorf zu einer Gemeinschaft von Teilhabenden. Und Eigentum zu etwas, das sich nicht trennt, sondern verbindet.
Vom Kapital zum Kollektiv
Vielleicht ist das die eigentliche Bewegung unserer Zeit: dass Kapital sich wieder in Gemeinschaft verwandelt. Nicht als romantische Idee, sondern als Notwendigkeit. Denn das alte System, in dem wenige besitzen und viele bezahlen, funktioniert immer weniger. Orte wie Mürren spüren das zuerst. Ferienhäuser stehen leer, weil niemand darin lebt. Familien ziehen weg, weil sie sich das Leben hier nicht mehr leisten können. Und das, was den Ort lebendig hält, Schule, Dorfladen, Handwerk, Nachbarschaft, beginnt zu erodieren.
Tokenisierung kann hier etwas verändern. Nicht, indem sie Geld ersetzt, sondern indem sie es umformt. Sie erlaubt, dass viele gemeinsam tragen, was zuvor nur wenigen gehörte. Ein Beispiel: Ein Hotel könnte nicht mehr einer Investorin aus Zürich oder Singapur gehören, sondern fünfzig, hundert und mehr Menschen, die sich mit Mürren verbunden fühlen. Einheimische, Ausgewanderte, Gäste, Freundinnen des Ortes. Jede und jeder hält einen kleinen Anteil, digital, transparent, nachvollziehbar. Gewinne, Entscheidungen und Verantwortung werden geteilt.
So entsteht etwas Neues: nicht ein «Anlageobjekt», sondern eine geteilte Verantwortung für einen Ort. Ein System, das nicht nur Rendite kennt, sondern Resonanz. Und vielleicht führt das dazu, dass wir Besitz wieder menschlich denken. Nicht als Mittel zur Abgrenzung, sondern als Werkzeug, um etwas gemeinsam zu erhalten. Denn Kapital, das sich nicht teilt, versteinert. Und Kapital, das geteilt wird, beginnt zu leben.
Vertrauen, das programmiert werden kann
Vertrauen ist die weltweit älteste Währung. Noch bevor es Münzen gab, vertrauten Menschen einander: beim Tausch, beim Bau, beim Wort. Ein Handschlag reichte. Ein Versprechen galt. In Mürren funktioniert vieles noch so. Man kennt sich. Man weiss, wer zuverlässig ist. Wer hilft, wenn Schnee fällt oder wenn jemand krank wird. Dieses Vertrauen ist nicht digitalisierbar. Es ist gelebte Nähe. Doch in einer vernetzten Welt, in der Menschen gemeinsam etwas besitzen oder finanzieren, ohne sich zu kennen, braucht es neue Formen, um Vertrauen zu sichern. Hier kommt die Technologie ins Spiel. Nicht, um Nähe zu ersetzen, sondern um sie zu ermöglichen.
Die Blockchain, dieses viel beschworene, schwer greifbare System, ist im Grunde nichts anderes als ein digitales Gedächtnis, das nicht lügt. Ein Register, das festhält, wer was besitzt, wer wann beiträgt, wer welche Rechte hat. Niemand kann es heimlich ändern, niemand allein kontrollieren. Das klingt technisch, ist aber zutiefst menschlich. Denn es geht um Fairness, Nachvollziehbarkeit, Transparenz. Um das, was Vertrauen überhaupt erst möglich macht.
So gesehen, ist Tokenisierung kein Widerspruch zur Bergwelt. Sie ist eine moderne Form des alten Dorfgedankens: dass man sich aufeinander verlassen kann, auch wenn man sich nicht jeden Tag sieht. Ein digitales Versprechen, das an die Stelle des Handschlags tritt. Nicht um ihn zu verdrängen, sondern um ihn zu erweitern. Und vielleicht ist genau das der Punkt: Technologie wird dann sinnvoll, wenn sie das Menschliche nicht ersetzt, sondern verstärkt.
Was Mürren lehren kann
Mürren ist mir mehr als ein Dorf. Es ist eine Art Gleichnis. Ein Ort, der zeigt, was bleibt, wenn die Welt sich verändert, und wie Wandel gelingen kann, ohne sich selbst zu verlieren. Hier oben ist alles sichtbar: das, was vergeht, und das, was trägt. Wenn ein Haus leersteht, weiss man, wem es gehörte. Wenn ein neuer Weg gebaut wird, weiss man, wer ihn braucht. Es gibt keine Anonymität. Jeder Entscheid ist konkret, jede Handlung sichtbar.
Genau darin liegt die Kraft dieses Ortes und seine Zukunft. Mürren könnte ein Labor für eine neue Form von Wirtschaft werden: lokal verwurzelt, global vernetzt. Was wäre, wenn Projekte hier nicht mehr von aussen finanziert würden, sondern von jenen, die sich mit dem Ort verbunden fühlen? Wenn Energieprojekte, Chalets, Landwirtschaft oder kleine Manufakturen gemeinschaftlich getragen würden. Nicht als Spenden, sondern als geteilte Investitionen in Lebensqualität?
All das wäre kein futuristisches Experiment, sondern eine Rückkehr zu einem alten Prinzip: gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Denn dort, wo Besitz geteilt wird, wächst nicht nur der Wert, sondern auch das Bewusstsein. Vielleicht könnte Mürren damit lehren, was die Welt vergessen hat: dass Ökonomie und Ökologie denselben Ursprung haben. Beides meint das Gleiche: das Haus, in dem wir leben.
Die Schattenseiten
Wo Licht ist, ist auch Blendung. Die Idee, reale Werte zu digitalisieren, trägt grosse Versprechen in sich, aber auch Versuchungen. Tokenisierung kann Gemeinschaft schaffen, ja. Sie kann aber auch Entfremdung fördern. Denn was teilbar wird, kann auch spekulativ werden.
Ein Chalet, das in digitale Anteile zerlegt wird, kann zu einem Investmentprodukt werden, losgelöst vom Ort, vom Schnee, von den Menschen, die hier leben. Besitz verliert dann seinen Bezug zur Wirklichkeit. Es ist ein feiner Unterschied zwischen Teilhaben und Traden. Zwischen Mitverantwortung und Marktlogik. Wenn alles zu einem handelbaren Token wird, kann auch das Gefühl verloren gehen, dass Dinge heilig sind. Ein Haus. Ein Baum. Eine Aussicht.
Tokenisierung allein kann das nicht heilen. Im Gegenteil: sie kann diese Dynamik verstärken, wenn sie ohne Haltung betrieben wird. Darum braucht es Bewusstsein, Ethik, Grenzen. Technologie ist nur so gut wie ihre Absicht. Und Besitz ist nur so gesund wie die Beziehung, die wir zu ihm haben. Vielleicht ist das die grössere Herausforderung: nicht, was wir tokenisieren, sondern warum.
Vom Berg ins Netzwerk: eine neue Ökonomie des Sinns
Vielleicht ist das die wahre Bewegung unserer Zeit: nicht die von unten nach oben, nicht die von Stadt zu Land, sondern die von Materie zu Bedeutung. Wir beginnen zu begreifen, dass Werte nicht im Besitz liegen, sondern in der Beziehung. Dass ein Haus nicht einfach vier Wände sind, sondern eine Geschichte. Dass Geld nicht nur Mittel, sondern Medium ist, ein Träger von Intention.
Mürren, dieser kleine Punkt auf der Karte, steht dafür exemplarisch. Ein Ort, der zeigt, dass Zukunft nicht in Wachstum liegt, sondern in Bewahrung. Nicht im Mehr, sondern im Besser. Tokenisierung, richtig verstanden, ist dann kein Finanzinstrument, sondern eine Sprache. Eine Art, Zugehörigkeit auszudrücken, Verantwortung zu teilen, Zukunft gemeinsam zu gestalten. Sie kann Kapital in Kultur verwandeln. Und Besitz in Beziehung.
Vielleicht ist das der nächste Schritt der Zivilisation: dass wir lernen, ökonomisch zu handeln, ohne das Lebendige zu verletzen. Dass wir Technik als Werkzeug verstehen, nicht als Ersatz. Und dass wir begreifen, dass Sinn immer dort entsteht, wo Menschen sich verbunden fühlen. Mit einem Ort, miteinander, mit der Zeit.
Vom Berg ins Netzwerk, vom Token zum Vertrauen, vom Besitz zum Beitrag: Das ist keine Utopie. Es ist eine Richtung. Und vielleicht beginnt sie genau hier, auf 1’650 m ü. Meer, in einem Dorf, das lehrt, wie man Zukunft baut, indem man das Vertraute bewahrt.