Die Philosophie des «Als Ob» von Hans Vaihinger: Warum Fiktionen uns helfen, die Welt zu verstehen

Unsere Welt ist voller Fiktionen – und das ist gut so. Der deutsche Philosoph Hans Vaihinger zeigte schon 1911 in seinem Werk «Die Philosophie des Als Ob», dass viele unserer Überzeugungen nicht der Realität entsprechen, und dennoch sehr nützlich sind. Ob in Wissenschaft, Ethik oder im Alltag – wir handeln oft so, «als ob» Dinge wahr wären, obwohl wir wissen, dass sie nur Konstrukte sind. Diese Fiktionen helfen uns, die Welt zu verstehen und Entscheidungen zu treffen. Ein Konzept, das heute aktueller ist denn je.

Wir leben in einer Welt, die voller Fiktionen ist. Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Hans Vaihinger war ein deutscher Philosoph, der durch sein Werk «Die Philosophie des Als Ob» (1911) bekannt wurde. In diesem Buch entwickelte er die Idee, dass viele unserer Überzeugungen und Konzepte eigentlich Fiktionen sind. Diese Fiktionen sind zwar nicht unbedingt wahr, aber sie erweisen sich als nützlich, weil wir so handeln, «als ob» sie wahr wären. Diese Philosophie hat weitreichende Auswirkungen auf unser Verständnis der Welt und zeigt, wie stark unser Denken von Annahmen abhängt, die uns zwar nicht die Wahrheit, aber dafür Orientierung bieten.

Was sind Fiktionen und warum wir sie brauchen

In «Die Philosophie des Als Ob» argumentiert Hans Vaihinger, dass viele Konzepte, die wir für die Realität halten, eigentlich Erfindungen sind, die wir entwickelt haben, um die Welt verständlicher zu machen. Diese Fiktionen, die Vaihinger als «fiktivistischen Realismus» bezeichnet, sind nicht nur praktisch, sondern auch unverzichtbar, um die komplexe Wirklichkeit zu bewältigen. Die Realität ist oft so kompliziert und unüberschaubar, dass wir sie nicht direkt erfassen können. Deshalb schaffen wir uns gedankliche Modelle, die zwar nicht ganz der Wahrheit entsprechen, uns aber dabei helfen, zu handeln und Entscheidungen zu treffen.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Mathematik: In der Geometrie verwenden wir die Vorstellung von perfekten Kreisen oder Linien, obwohl in der Natur keine wirklich perfekten Kreise oder Linien existieren. Diese idealen Formen existieren nur in unserer Vorstellung, aber sie sind ausgesprochen nützlich, weil sie uns ermöglichen, präzise Berechnungen und Konstruktionen durchzuführen, die sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft von grosser Bedeutung sind.

Ein besonders faszinierendes Beispiel für die Nützlichkeit von Fiktionen findet sich in der Quantenphysik. Das klassische Modell, wie das Bohrsche Atommodell, zeigt Elektronen als Teilchen, die auf festen Bahnen um den Atomkern kreisen. Dieses Bild hat viele Generationen von Schüler:innen und Wissenschaftler:innen geprägt, doch es ist längst überholt. In Wirklichkeit sind Elektronen viel komplizierter – sie verhalten sich in der Quantenmechanik wie Wellen und Teilchen zugleich, und ihre Position kann nie genau bestimmt werden. Trotz dieses Wissens verwenden wir oft immer noch das vereinfachte Bild von Elektronen auf festen Bahnen, weil es uns hilft, bestimmte Phänomene leichter zu erklären und zu verstehen.

Ein weiteres Beispiel ist das Konzept des «Superpositionszustands». In der Quantenmechanik wird angenommen, dass ein Teilchen gleichzeitig mehrere Zustände einnehmen kann – zum Beispiel kann es an mehreren Orten gleichzeitig sein. Diese Vorstellung ist schwer zu begreifen und widerspricht unserer alltäglichen Erfahrung. Doch die Fiktion der Superposition ermöglicht es Physiker:innen, komplexe Berechnungen durchzuführen und Phänomene wie die Quantenverschränkung zu erklären, die eine fundamentale Rolle in der Quantenphysik spielt.

«Wir tun so, als ob wir die Wahrheit erkennen könnten, aber in Wirklichkeit leben wir in einem Meer von Fiktionen.» - Hans Vaihinger

Fiktionen in unserem Alltag

Und bitte, was hat das mit unserem Alltag zu tun? Kurz: sehr viel. Und etwas ausführlicher: Auch wir arbeiten ständig mit Fiktionen, um den Herausforderungen des Lebens zu begegnen. Ein einfaches Beispiel ist die Art, wie wir unsere Zukunft planen. Niemand weiss, was morgen passieren wird, und doch verhalten wir uns so, «als ob» wir die Zukunft vorhersagen könnten. Diese Annahme der Vorhersehbarkeit ist eine Fiktion, die uns hilft, Entscheidungen zu treffen, ohne von der Angst vor dem Unbekannten gelähmt zu werden. Wenn wir einen Job annehmen, planen wir, wie sich unsere Karriere entwickeln könnte, obwohl wir nicht wissen, was auf uns zukommt. Die Zukunft ist ungewiss, aber wir handeln so, «als ob» sie kontrollierbar wäre.

Ein weiteres alltägliches Beispiel sind soziale Rollen. Ob als Elternteil, Freund:in oder Mitarbeiter:in – wir schlüpfen in verschiedene Rollen, die auf festen Erwartungen und Normen beruhen. Diese Rollen sind keine festen Realitäten, sondern soziale Konstruktionen, auf die wir uns «als ob» sie real wären, verlassen. Diese Annahmen erleichtern uns den Umgang mit anderen und stabilisieren unsere Identität.

Psychologische Dimension: Warum unser Gehirn Fiktionen braucht

Auch die Psychologie zeigt, dass Fiktionen eine entscheidende Rolle in unserem Denken spielen. Unser Gehirn neigt dazu, Modelle und Annahmen über die Realität zu entwickeln, weil es unmöglich ist, alle Details der Wirklichkeit gleichzeitig und vollständig zu erfassen. Unser Gehirn vereinfacht bewusst, weil es sonst überfordert wäre, die Flut an Informationen zu verarbeiten, die täglich auf uns einströmt. Diese Fiktionen sind also keine Täuschungen oder Fehler unseres Denkens, sondern vielmehr nützliche Werkzeuge, die es uns ermöglichen, effektiv zu denken und zu handeln.

Ein klassisches Beispiel aus der Kognitionswissenschaft ist die Vorstellung, dass unser Gedächtnis wie ein Fotoalbum funktioniert, in dem wir Erinnerungen speichern und bei Bedarf abrufen können. Diese «Speicher-Fiktion» vermittelt uns das Gefühl, dass Erinnerungen unverändert in unserem Kopf vorhanden sind und jederzeit abrufbar sind. In Wirklichkeit ist das Gedächtnis jedoch dynamisch und veränderlich. Erinnerungen werden beim Abruf jedes Mal neu konstruiert und können durch neue Informationen beeinflusst oder sogar verzerrt werden. Trotz dieser Komplexität hilft uns die vereinfachte Vorstellung eines statischen Gedächtnisspeichers dabei, unser Verständnis über das Gedächtnis zu strukturieren und Alltagserfahrungen wie das Erinnern und Vergessen besser zu begreifen.

Ein weiteres Beispiel für nützliche Fiktionen in der Psychologie ist die Idee der «Willensfreiheit». Wir neigen dazu, unser Handeln und unsere Entscheidungen so zu betrachten, als ob wir vollständig frei und unabhängig von äusseren Einflüssen agieren. Dies gibt uns ein Gefühl der Kontrolle über unser Leben und motiviert uns, Verantwortung für unsere Handlungen zu übernehmen. In der Realität wissen wir jedoch, dass unsere Entscheidungen stark von unbewussten Prozessen, sozialen Einflüssen und Umweltfaktoren geprägt werden. Studien aus der Neurowissenschaft deuten darauf hin, dass Entscheidungen oft schon im Gehirn getroffen werden, bevor wir uns ihrer bewusst werden. Trotzdem bleibt die Vorstellung der Willensfreiheit eine nützliche Fiktion, weil sie uns hilft, ein kohärentes Selbstbild aufrechtzuerhalten und unser Verhalten zu organisieren.

Auch in der Wahrnehmung sind Fiktionen von zentraler Bedeutung. Ein bekanntes Beispiel ist die visuelle Wahrnehmung von Bewegung. Wenn wir im Kino einen Film ansehen, erleben wir die gezeigten Bilder als flüssige Bewegungen, obwohl wir wissen, dass Filme aus einzelnen, unbewegten Bildern bestehen, die schnell hintereinander abgespielt werden. Unser Gehirn konstruiert die Illusion von Bewegung, indem es die einzelnen Bilder zu einer kontinuierlichen Abfolge verbindet. Diese Fiktion ist nicht nur nützlich, sondern auch essenziell für unser Verständnis von Bewegung im Alltag.

Oder die soziale Wahrnehmung. Wir neigen dazu, uns von ersten Eindrücken und einfachen Kategorien leiten zu lassen, wenn wir andere Menschen beurteilen. So können wir auf den ersten Blick jemanden als «freundlich» oder «feindlich» einstufen, basierend auf wenigen Informationen, die oft stereotypisch geprägt sind. Diese schnellen Urteile sind nicht immer zutreffend, aber sie helfen uns, soziale Interaktionen effizienter zu gestalten und uns in einer komplexen sozialen Welt zurechtzufinden.

Schliesslich ist auch das Konzept des Selbst eine Fiktion, die unser Denken lenkt. Die Vorstellung, dass wir eine feste, unveränderliche Identität besitzen, ist eine Vereinfachung, die uns hilft, Stabilität in unser Leben zu bringen. In Wirklichkeit sind unsere Gedanken, Überzeugungen und Verhaltensweisen viel dynamischer und situationsabhängiger, als uns bewusst ist. Trotzdem bietet uns die Illusion eines stabilen «Ich» Orientierung und ermöglicht es uns, langfristige Entscheidungen zu treffen.

Moralische Fiktionen: Warum wir an Regeln glauben, die es nicht gibt

Ein weiteres Feld, in dem die «Als Ob»-Philosophie eine grosse Rolle spielt, ist die Ethik. Viele moralische Gesetze und Normen, die wir im Alltag befolgen, sind im Grunde Fiktionen – Konstrukte, die wir als wahr akzeptieren, obwohl sie keine objektive Grundlage in der Natur haben. Ein klassisches Beispiel ist das Gebot «Du sollst nicht lügen». In der Natur gibt es kein Gesetz, das uns dazu zwingt, ehrlich zu sein. Dennoch handeln wir, als ob dieses Gebot eine absolute moralische Wahrheit wäre. Diese Fiktionen sind essenziell, um soziale Ordnung und Vertrauen in einer Gemeinschaft aufrechtzuerhalten.

Ehrlichkeit ist eine moralische Regel, die uns im Alltag leitet und es ermöglicht, stabilere Beziehungen aufzubauen. Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Mitmenschen die Wahrheit sagen, können wir soziale und berufliche Interaktionen effizient gestalten. Doch die Vorstellung, dass Lügen per se «schlecht» ist, ist eine menschliche Erfindung, die tief in unsere Gesellschaft eingebettet wurde. Ohne diese moralische Fiktion wäre Vertrauen kaum möglich, und der Zusammenhalt in der Gemeinschaft würde schwinden. Diese ethischen Fiktionen sind daher eine Art soziale Infrastruktur, die uns ermöglicht, friedlich und produktiv miteinander zu leben.

Ein weiteres Beispiel ist das Konzept der Gerechtigkeit. In der Natur gibt es kein universelles Prinzip, das Gerechtigkeit als solchen garantiert. Doch in menschlichen Gesellschaften wird sie als ein fundamentales Ideal angesehen, das den Umgang miteinander regeln soll. Wir verhalten uns so, als ob es eine objektive, absolute Definition von Gerechtigkeit gäbe, obwohl in verschiedenen Kulturen und Epochen unterschiedliche Auffassungen davon existieren. Dieses Ideal hilft uns, Konflikte zu lösen, Rechte zu schützen und Verantwortlichkeiten festzulegen.

Die Vorstellung von Menschenrechten ist eine weitere moralische Fiktion, die eine zentrale Rolle in modernen Gesellschaften spielt. Die Idee, dass jeder Mensch bestimmte unveräusserliche Rechte besitzt – wie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit – ist nicht in der Natur verankert, sondern eine Schöpfung menschlicher Vernunft und Ethik. Wir handeln jedoch so, «als ob» diese Rechte universell gültig wären, weil sie uns helfen, moralische und rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die das friedliche Zusammenleben fördern.

Auch das Prinzip der Strafe basiert auf moralischen Fiktionen. Der Glaube, dass Menschen, die moralische oder gesetzliche Normen verletzen, bestraft werden müssen, hat keine Grundlage in der Natur. Dennoch akzeptieren die meisten von uns diese Fiktion als notwendige Grundlage für soziale Gerechtigkeit. Strafen helfen dabei, Fehlverhalten zu sanktionieren, und tragen dazu bei, die Gesellschaft zu schützen und moralische Normen aufrechtzuerhalten. Ohne diese Annahmen könnte eine Gemeinschaft kaum aufrechterhalten werden.

Ein weiterer interessanter Fall ist die Fiktion des «freien Willens», die eng mit der Verantwortung für unser Handeln verknüpft ist. Obwohl die Neurowissenschaften immer stärker darauf hindeuten, dass viele Entscheidungen unbewusst und durch neurologische Prozesse beeinflusst werden, handeln wir so, als ob jeder Mensch die Freiheit hat, Entscheidungen unabhängig zu treffen. Diese Fiktion ist grundlegend für unser Rechtssystem und unsere moralischen Bewertungen. Wir behandeln Menschen, die gegen Gesetze oder moralische Normen verstossen, als verantwortlich für ihr Handeln, weil wir davon ausgehen, dass sie die Wahl hatten, anders zu handeln. Auch wenn der freie Wille in der Realität vielleicht weniger autonom ist, als wir glauben, bleibt die Vorstellung davon eine zentrale moralische Fiktion.

Ein letztes, aber nicht abschliessendes Beispiel sind religiöse moralische Gebote. Viele Kulturen folgen ethischen Grundsätzen, die auf religiösen Lehren beruhen, wie «Du sollst nicht töten» oder «Liebe deinen Nächsten». Auch diese moralischen Gebote sind Fiktionen, die nicht aus der Natur, sondern aus dem Glauben und der Tradition stammen. Doch sie formen das Verhalten von Millionen Menschen und tragen massgeblich zur sozialen Ordnung bei. Obgleich sie keine universelle Wahrheit darstellen, haben sie für viele Menschen realen Einfluss auf ihre Handlungen und Überzeugungen.

Und die Kritik an Vaihingers Ansatz?

Natürlich ist Vaihingers Philosophie des «Als Ob» nicht unumstritten. Kritiker:innen werfen ihm vor, dass seine Betonung der Fiktionen den Wert der objektiven Wahrheit untergräbt. «Alternative Wahrheit» als Stichwort, Sie erinnern sich … Wenn wir akzeptieren, dass viele unserer Konzepte nur nützliche Fiktionen sind, entsteht die Frage: Wie können wir dann noch zwischen guten und schlechten Theorien unterscheiden? Diese Unsicherheit birgt das Risiko, dass jegliche Suche nach Wahrheit irrelevant wird, da sie in Vaihingers Ansatz oft hinter der Nützlichkeit zurücksteht. In der Wissenschaft könnte dies problematisch werden, wenn Theorien allein danach bewertet werden, ob sie praktisch anwendbar sind, unabhängig davon, wie gut sie die Realität tatsächlich widerspiegeln.

Ein weiteres häufiges Argument gegen Vaihingers Ansatz ist, dass er zu einem übertriebenen Relativismus führen könnte. Wenn wir alles als Fiktion betrachten, könnte es schwierig werden, verbindliche moralische, wissenschaftliche oder gesellschaftliche Standards zu setzen. Kritiker:innen befürchten, dass dies den Weg für einen gefährlichen Skeptizismus öffnet, in dem jedes Konzept oder jede Theorie gleichermassen gültig ist, solange es praktisch nützlich ist. Dies könnte im schlimmsten Fall dazu führen, dass wir den Unterschied zwischen Wahrheit und Täuschung nicht mehr klar erkennen.

Ein Beispiel dafür lässt sich in der Debatte über wissenschaftliche Theorien erkennen. In Bereichen wie der Klimaforschung oder der Medizin ist es entscheidend, dass Theorien nicht nur nützlich sind, sondern auch einen hohen Grad an Objektivität aufweisen. Wenn etwa eine Theorie zur globalen Erwärmung als «nützlich» betrachtet wird, ohne jedoch der Realität gerecht zu werden, könnte dies schwerwiegende Folgen für die Klimapolitik haben. Die Frage, ob nützliche Fiktionen auch moralisch vertretbar sind, bleibt offen. Kritiker:innen von Vaihingers Ansatz fragen daher: Wie können wir sicherstellen, dass eine Theorie ethisch korrekt ist, wenn wir sie als blosse Fiktion behandeln?

Ein weiteres kritisches Argument betrifft den Umgang mit moralischen und sozialen Normen. Wenn wir moralische Regeln wie «Du sollst nicht lügen» als Fiktionen betrachten, stellt sich die Frage, wie wir langfristig moralische Verbindlichkeit aufrechterhalten können. Wenn wir beginnen, alle moralischen Normen als blosse Konstrukte zu sehen, könnte dies zu einem moralischen Relativismus führen, bei dem es keine klaren Grenzen mehr zwischen richtig und falsch gibt. Diese Haltung könnte das soziale Gefüge schwächen, da moralische Verhaltensregeln als weniger verpflichtend wahrgenommen werden.

Trotz dieser Kritikpunkte hat Vaihingers «Als Ob»-Philosophie auch viele Anhänger:innen, insbesondere in der modernen Wissenschaftstheorie. Befürworter:innen argumentieren, dass der pragmatische Wert einer Theorie oft wichtiger ist als ihre Fähigkeit, die absolute Wahrheit zu repräsentieren. Primär in der Physik und Mathematik, wo komplexe Phänomene oft durch stark vereinfachte Modelle beschrieben werden, zeigt Vaihingers Ansatz, dass die Nützlichkeit einer Theorie nicht unbedingt von ihrer vollständigen Übereinstimmung mit der Realität abhängt. Wissenschaftliche Theorien wie die Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik sind Beispiele dafür, dass Modelle, die die Realität nicht vollständig erklären, dennoch enorme Fortschritte ermöglichen können.

Zusätzlich bietet Vaihingers Philosophie eine wertvolle Perspektive auf die Rolle von Fiktionen im Alltag. Seine Idee, dass wir oft so handeln, «als ob» etwas wahr wäre, erlaubt es uns, in einer komplexen und unvorhersehbaren Welt handlungsfähig zu bleiben. Befürworter:innen argumentieren, dass der Fokus auf Nützlichkeit keine Verleugnung der Wahrheit bedeutet, sondern eine realistische Anerkennung der Grenzen menschlicher Erkenntnis darstellt. In einer Welt, in der absolute Gewissheiten schwer zu finden sind, kann Vaihingers Ansatz helfen, mit Unsicherheiten produktiv umzugehen.

Und ob: Die Nützlichkeit von Fiktionen

Hans Vaihingers «Als Ob»-Philosophie zeigt uns etwas, das auf den ersten Blick vielleicht irritierend wirkt: Viele unserer Überzeugungen und Vorstellungen sind in Wirklichkeit Fiktionen. Doch das ist nicht negativ – im Gegenteil. Diese Fiktionen sind weit mehr als Täuschungen, sie sind essenzielle Werkzeuge, die uns dabei helfen, in einer komplexen und unsicheren Welt zurechtzukommen.

Was seine Philosophie so wertvoll macht, ist der pragmatische Ansatz. Es geht nicht darum, ob eine Vorstellung objektiv wahr ist, sondern darum, ob sie uns nützt. In einer Welt, die oft zu komplex ist, um sie vollständig zu verstehen, sind Fiktionen ein unverzichtbares Mittel, um Ordnung zu schaffen und Entscheidungen zu treffen. Wir handeln also nicht nur, als ob diese Fiktionen real wären – sie sind in gewisser Weise sogar real, weil sie uns ermöglichen, ein funktionierendes Leben zu führen.

Vaihinger fordert uns heraus, die Grenze zwischen Realität und Einbildung neu zu überdenken. Es ist nicht immer wichtig, ob etwas «wahr» ist – manchmal ist es viel entscheidender, ob es uns hilft, mit der Realität umzugehen. Wie Vaihinger es ausdrückte: «Wir tun so, als ob wir die Wahrheit erkennen könnten, aber in Wirklichkeit leben wir in einem Meer von Fiktionen.» Dies mag im ersten Moment entmutigend klingen, doch in Wahrheit ist es eine befreiende Erkenntnis. Es zeigt uns, wie stark unsere Vorstellungskraft ist und wie sie uns hilft, in einer oft widersprüchlichen Welt Halt zu finden.

Letztlich geht es nicht darum, die Wahrheit bis ins letzte Detail zu kennen, sondern darum, Werkzeuge zu haben, mit denen wir navigieren können. Fiktionen – seien es soziale Rollen, moralische Prinzipien oder unsere Vorstellung von der Zukunft – geben uns diese Werkzeuge an die Hand. Sie sind keine Illusionen, die uns täuschen, sondern kreative Hilfsmittel, die uns ermöglichen, unseren Weg zu gehen und die Welt auf eine Weise zu begreifen, die für uns Sinn stiftet. Und das ist es, was Vaihinger uns zeigen will: Die Kraft unserer Vorstellung ist vielleicht die wichtigste Ressource, die wir haben, um in dieser Welt zu bestehen.