Zu nett? Das Problem übermässiger Freundlichkeit

«Zu nett zu sein» scheint ein seltsames Problem zu sein. Doch für viele von uns stellt es eine reale Herausforderung dar, die sowohl persönliche als auch zwischenmenschliche Auswirkungen haben kann. In diesem Artikel beleuchte ich das Phänomen des «zu nett Seins», seine Auswirkungen und mögliche Lösungsansätze, untermauert durch Carl Gustav Jungs Theorie der Archetypen.

Daniel Frei – Die Frage «Bin ich zu nett?» mag auf den ersten Blick harmlos und sogar wünschenswert erscheinen, doch bei genauerer Betrachtung offenbart sie ein tiefgreifendes Dilemma des menschlichen Sozialverhaltens: die übermässige Freundlichkeit. Dieses Phänomen, oft als übertriebene Nettigkeit bezeichnet, ist weit mehr als blosse Höflichkeit oder gesellschaftliche Fassade. Es spiegelt eine komplexe Mischung aus psychologischen Antrieben und sozialen Erwartungen wider, die tief in unserer Psyche verankert sind. Diese Art von Verhalten ist oft durch eine übersteigerte Notwendigkeit geprägt, anderen zu gefallen, Konflikte zu vermeiden und ständig Zustimmung zu suchen. Es ist, als ob sich hinter jedem Lächeln und jeder Zustimmung eine verborgene Welt von Bedürfnissen, Ängsten und Unsicherheiten verbirgt, die selten an die Oberfläche dringen.

Die Merkmale übermässiger Freundlichkeit

Die Charakteristika von Menschen, die als «zu nett» gelten, sind vielschichtig und tief verwurzelt. Diese Individuen neigen dazu, ihre eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen konsequent zugunsten anderer zu vernachlässigen. Dieses Verhalten reicht weit über die Grenzen normaler Freundlichkeit und Höflichkeit hinaus und beeinträchtigt verschiedene Aspekte des Lebens. Zu den Hauptmerkmalen zählen eine ausgeprägte Schwierigkeit, «Nein» zu sagen, auch wenn dies zulasten der eigenen Pläne oder Wünsche geht. Die Vermeidung von Konflikten wird zu einem zentralen Anliegen, oft um den Preis der eigenen Meinungen oder Überzeugungen. Die Selbstaufopferung, ein weiteres charakteristisches Merkmal, kann bis zu dem Punkt reichen, an dem die eigene Gesundheit oder das Wohlbefinden beeinträchtigt wird. Diese Menschen haben oft Schwierigkeiten, gesunde Grenzen zu setzen, was sie anfällig für ausnutzende oder ungleiche Beziehungen macht. Ferner ist ihr Verhalten häufig von einem tiefen Bedürfnis nach Zustimmung und Akzeptanz getrieben, was dazu führt, dass sie sich übermässig um die Anerkennung anderer bemühen. Oft bleibt nach dem Austausch mit «zu netten» Personen ein schales Gefühl zurück, verbunden mit der Frage nach der Echtheit und Authentizität dieser Menschen.

Langfristige Auswirkungen und die Frage nach dem Selbst

Langfristig kann das Verhalten der übermässigen Freundlichkeit zu einer Reihe von emotionalen und psychischen Problemen führen. Eines der Hauptprobleme ist die emotionale Erschöpfung, die aus dem ständigen Bestreben entsteht, anderen zu gefallen und Konflikte zu vermeiden. Diese Erschöpfung ist oft tiefgreifend und betrifft nicht nur das physische, sondern auch das emotionale und mentale Wohlbefinden. Ein weiteres signifikantes Problem ist das geringe Selbstwertgefühl, das aus der ständigen Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse und Wünsche resultiert. Menschen, die zu nett sind, neigen dazu, ihre eigenen Bedürfnisse und Werte als weniger wichtig oder gar irrelevant zu betrachten. Dies kann zu Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung, einem Mangel an Selbstvertrauen und einer generellen Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben führen. Der Psychologe Carl Rogers betonte das menschliche Bedürfnis nach positiver Beachtung und stellte fest, dass ein hohes Mass an Anpassung an die Erwartungen anderer zu einem hohen emotionalen Preis führen kann. Dies spiegelt sich in der Tendenz wider, die eigene Identität und Werte zu verleugnen, um Anerkennung und Akzeptanz zu erlangen.

Auswirkungen auf Beziehungen

In Beziehungen kann diese übermässige Freundlichkeit zu einem Ungleichgewicht führen, das sowohl für die übermässig freundliche Person als auch für ihre Beziehungspartner problematisch ist. Eines der Hauptprobleme ist, dass übermässige Freundlichkeit oft als Schwäche wahrgenommen und entsprechend ausgenutzt werden kann. In einigen Fällen erkennen Beziehungspartner oder Freunde diese Eigenschaft und nutzen sie zu ihrem Vorteil. Dies kann zu einer Dynamik führen, in der die Bedürfnisse der übermässig freundlichen Person konsequent ignoriert oder minimiert werden, während die Bedürfnisse des Partners oder der Freunde in den Vordergrund gerückt werden. Ein weiteres Problem ist, dass übermässige Freundlichkeit oft dazu führt, dass die Person nicht ernst genommen wird. Ihre ständige Bereitschaft, nachzugeben, zu unterstützen und Konflikte zu vermeiden, kann dazu führen, dass ihre Meinungen und Bedürfnisse als weniger wichtig oder dringlich angesehen werden. Dies kann zu einem Mangel an Respekt in der Beziehung führen, wobei die Meinungen und Entscheidungen der übermässig freundlichen Person übergangen oder ignoriert werden.

Der Fürsorger-Archetyp und seine Schattenseite

Carl Jung, Pionier der Tiefenpsychologie, hat den Fürsorger-Archetyp als einen wesentlichen Bestandteil des kollektiven Unbewussten beschrieben. Dieser Archetyp symbolisiert Geben, Fürsorglichkeit und Empathie. In seiner positiven Ausprägung verkörpert der Fürsorger altruistische Liebe und Hingabe. Doch die Schattenseite dieses Archetyps wird sichtbar, wenn die Fürsorge übertrieben wird und in Selbstaufopferung mündet. Diese extreme Form der Selbstaufopferung kann zu einem Verlust der eigenen Identität und Selbstachtung führen. Personen, die in der Schattenform des Fürsorgers gefangen sind, neigen dazu, sich in Beziehungen zu verlieren, indem sie sich übermässig auf die Bedürfnisse anderer konzentrieren und dabei ihre eigenen vernachlässigen. Dies führt oft zu einem Ungleichgewicht in zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen der Fürsorger ständig gibt, aber selten empfängt. Zudem kann diese Schattenseite des Fürsorgers zu manipulativem Verhalten führen, bei dem Fürsorge als Mittel eingesetzt wird, um Anerkennung, Zuneigung oder Kontrolle zu erlangen.

Lösungsansätze: Ein Gleichgewicht finden

Die Lösung erfordert eine umfassende Strategie, die mehrere Aspekte umfasst. Zunächst ist die Stärkung des Selbstbewusstseins entscheidend. Dieser Prozess beginnt mit der Erkenntnis und Akzeptanz des eigenen Verhaltens, gefolgt von einer tiefen Selbstreflexion. Das Ziel ist, ein Bewusstsein für die Gründe des eigenen Handelns zu entwickeln und zu verstehen, warum man dazu neigt, «zu nett» zu sein. Eine Therapie oder Beratung kann dabei unterstützen, diese Muster zu erkennen und zu verstehen. Durch die Arbeit mit einem Therapeuten, einer Therapeutin können tief verwurzelte Überzeugungen und Erfahrungen, die zu diesem Verhalten führen, aufgedeckt und bearbeitet werden. Ein weiterer wichtiger Schritt ist das Erlernen, Grenzen zu setzen und «Nein» zu sagen. Dies erfordert Übung und kann anfangs unangenehm sein, ist aber für die eigene psychische Gesundheit und das Wohlbefinden unerlässlich. Es geht darum, zu erkennen, dass die eigenen Bedürfnisse genauso wichtig sind wie die anderer. Die Integration des Schatten-Archetyps nach Carl Jung beinhaltet die Anerkennung und Integration der eigenen dunkleren oder weniger akzeptierten Seiten. Indem man sich seiner eigenen Schwächen und negativen Tendenzen bewusst wird, kann man ein ausgewogeneres und authentischeres Verhalten entwickeln. In Beziehungen ist es wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen zu finden. Dies bedeutet, die eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren und sicherzustellen, dass diese in der Beziehung auch Beachtung finden. Schliesslich ist die regelmäßige Praxis der Selbstfürsorge entscheidend. Dies beinhaltet, Prioritäten für das eigene Wohlbefinden zu setzen und sich Zeit für sich selbst zu nehmen (siehe auch Selbstreflexion lernen: Eine Anleitung zur besseren Verständigung eigener Gefühle und Bedürfnisse.).

Mehr als nur eine Frage der Nettigkeit

Die Frage, ob die Lösung darin besteht, mehr «Arschloch» zu sein, mag provokant sein, aber sie lenkt von der eigentlichen Herausforderung ab. Es geht nicht darum, ein extremes Verhalten zu entwickeln, sondern vielmehr darum, ein gesundes Mass an Selbstbehauptung zu entwickeln und ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen anderer und den eigenen zu finden. Die wahre Herausforderung besteht darin, eine authentische Freundlichkeit zu leben, die weder Selbstaufopferung noch Ausnutzung durch andere zulässt. Das Ziel ist ein ausgewogeneres, selbstbestimmtes Verhalten, das echte zwischenmenschliche Beziehungen fördert und es dem Einzelnen ermöglicht, ein erfülltes und gesundes Leben zu führen.