«Zu Hause bin ich ganz anders» – Wie wir unterschiedliche Rollen in unserem Leben spielen

Die Aussage «Zu Hause bin ich ganz anders» fasst ein modernes Phänomen zusammen, dass viele Menschen in ihrem täglichen Leben erfahren. Diese Erfahrung, unterschiedliche Rollen in verschiedenen Kontexten zu spielen, ist in unserer schnelllebigen, leistungsorientierten Gesellschaft allgegenwärtig. In diesem Essay gehe ich auf die Komplexität dieses Phänomens ein, betrachte die psychologischen und sozialen Auswirkungen und zeige Lösungsansätze auf.

Zu Hause bin ich ganz anders. Illustration: Daniel Frei

Zu Hause bin ich ganz anders. Illustration: Daniel Frei

Daniel Frei – Das Konzept der Persona, massgeblich von Carl Gustav Jung entwickelt und von Sigmund Freud beeinflusst, bietet einen tiefen Einblick in das Verständnis der menschlichen Psyche. Die Persona, eine Sammlung von «Masken» oder Rollen, die wir in unserem sozialen Leben spielen, fungiert als Schnittstelle zwischen dem individuellen Selbst und der Gesellschaft und ist entscheidend für die Interaktion und Kommunikation mit anderen. Jung betrachtete die Persona als einen notwendigen Teil des Selbst, um in der Gesellschaft zu funktionieren, da sie Individuen hilft, sich an verschiedene soziale Umgebungen und Erwartungen anzupassen. Zum Beispiel kann eine Person in ihrer Rolle als Lehrer:in autoritär und strukturiert auftreten, während sie, ihr möglicherweise sogar unbewusst, als Elternteil liebevoll und fürsorglich ist, was unterschiedliche Aspekte der Persönlichkeit je nach Kontext betont (mehr dazu in meinem Themen-Dossier «Archetypen»).

Die psychologischen Auswirkungen des Rollenwechsels

Der ständige Wechsel zwischen unterschiedlichen Rollen kann aber signifikante psychologische Auswirkungen haben, wie eine Studie der Harvard University zeigt. Die kontinuierliche Anpassung der eigenen Persönlichkeit an verschiedene Umgebungen kann zu erhöhtem Stress und Burn-out führen. Diese psychischen Belastungen entstehen durch den konstanten Druck, sich an wechselnde soziale Situationen und Erwartungen anzupassen. Ein Bekannter illustrierte dies, indem er erklärte, dass er sich am Arbeitsplatz bewusst anders verhält als privat, um sich beruflich weniger angreifbar und verletzlich zu machen. Diese strategische Anpassung kann kurzfristig Vorteile bieten, birgt aber langfristig das Risiko, die Verbindung zum wahren Selbst zu verlieren.

Konsequenzen dieses Verhaltens

Der Ansatz, sich beruflich anders zu verhalten als privat, hat sowohl kurzfristige Vorteile als auch langfristige Konsequenzen. Während er berufliche Stabilität und Schutz vor Konflikten bietet, kann er eine Diskrepanz zwischen dem wahren Selbst und der beruflichen Persona erzeugen. Dies führt zu inneren Konflikten, einem Gefühl der Entfremdung und einem Verlust der persönlichen Authentizität. Langfristig kann dies zu Schwierigkeiten bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung tiefer, authentischer Beziehungen führen, da die Fähigkeit zur emotionalen Offenheit und Ehrlichkeit beeinträchtigt wird.

Vor- und Nachteile der Anpassungsfähigkeit

Anpassungsfähigkeit bietet Vorteile wie soziale Integration und beruflichen Erfolg. Menschen, die sich leicht an neue Situationen anpassen können, finden oft schneller Anschluss und kommunizieren effektiver. Im Beruf führt Anpassungsfähigkeit zu Effizienz und Kreativität bei der Problemlösung. Jedoch kann eine übermässige Anpassung zu einem Verlust des Gefühls für die eigene Identität führen. Eine zu starke Anpassung kann zu innerem Stress und einer Beeinträchtigung des Selbstrespekts führen, wenn man gegen persönliche Werte handelt, um sich anzupassen.

Das Selbst in Balance bringen

Aus der buddhistischen Perspektive betrachtet, kann das Festhalten an einer festen beruflichen Identität zu einem Ungleichgewicht führen. Das Konzept des Anatta (Nicht Selbst) lehrt, dass das Selbst eine dynamische Erfahrung ist, die nicht in starren Kategorien gefasst werden kann. Die buddhistische Lehre schlägt vor, eine flexiblere Haltung dem Selbst gegenüber und der Identität einzunehmen, offen für Veränderungen zu sein und die verschiedenen Aspekte der Persönlichkeit als Teil eines kontinuierlichen Entwicklungsprozesses zu akzeptieren. Achtsamkeit und Selbstbeobachtung spielen eine wichtige Rolle, um ein tieferes Verständnis für die eigenen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen zu entwickeln und eine harmonischere Beziehung zwischen dem beruflichen und privaten Selbst zu fördern.

Der Weg zur Authentizität und Life-Balance

Die Herausforderung besteht darin, ein Gleichgewicht zwischen Anpassungsfähigkeit und Authentizität zu finden. Achtsamkeitspraktiken und Selbstreflexion sind Schlüssel zur Förderung von Authentizität. Sie helfen, ein Bewusstsein für automatische Reaktionen zu entwickeln und bewusstere Entscheidungen zu treffen. Selbstreflexion ermöglicht ein besseres Verständnis für wahre Motivationen und Wünsche und das Erkennen der eigenen Authentizität. Das Setzen von Grenzen ist ebenfalls wichtig, um die eigene Energie zu verwalten und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Authentizität in einer schneller werdenden Welt

Es ist entscheidend, flexibel zu sein, ohne die Kernwerte und das wahre Selbst zu opfern. Die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Rollen zu wechseln, ohne die Authentizität zu verlieren, ist eine wichtige Fähigkeit. Sie ermöglicht es, ein erfülltes Leben zu führen, das sowohl persönlichen Ambitionen als auch dem Streben nach tieferem Sinn und Verbindung gerecht wird. Dieser Prozess erfordert Mut, Offenheit für Veränderungen und die Bereitschaft, sowohl in Phasen der Anpassung als auch in Momenten des Festhaltens an unserer Authentizität zu wachsen.