Zwischen PachaKuti und Ikigai: Die Jahresbilanz neu gedacht

Das Jahresende ist traditionell eine Zeit des Innehaltens, der Reflexion und des Neuanfangs. Doch allzu oft scheitern wir an unseren hohen Erwartungen und starren Zielen. Vielleicht ist es an der Zeit, das Konzept der Jahresbilanz zu überdenken: mit zyklischem Denken, kreativen Ansätzen und philosophischen Inspirationen, die den Fokus weg von Leistung hin zu persönlichem Wachstum und Gemeinschaft lenken.

Am Ende steht die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, das Leben Jahr für Jahr zu bewerten. Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Am Ende des Jahres blicken wir traditionell zurück, ziehen Bilanz und wagen wahrscheinlich sogar mutig einen Blick nach vorn. Dieses Ritual, das oft genug von guten Vorsätzen und grossen Erwartungen begleitet wird, ist so alt wie der Kalender selbst. Doch allzu oft scheitern wir an unseren grossen Zielen, zu engen Definitionen von Erfolg und / oder an der schieren Unvorhersehbarkeit des Lebens.

Vielleicht ist es Zeit, das Konzept der Jahresreflexion neu zu denken – mit Ansätzen, die über unsere westlichen Denkmuster hinausgehen, mit kreativen und spielerischen Ideen und mit einem klareren Blick auf das, was wirklich zählt.

Jenseits der Jahreszahlen: Zyklisches Denken statt linearem Fortschritt

In unserer westlichen Kultur betrachten wir Zeit tendenziell als lineare Abfolge von Ereignissen. Die Vorstellung, dass das Jahr einen Anfang und ein Ende hat, entspricht diesem Denken und erzeugt oft unbewusst Druck: Alles, was wir uns vorgenommen haben, muss in diesen zwölf Monaten geschehen. Doch viele indigene und nicht westliche Kulturen sehen Zeit als Kreislauf, als etwas, das sich wiederholt und auf natürliche Weise erneuert.

In der Kosmovision der Andenvölker steht «Pachakuti» für die zyklische Wiederkehr von Veränderungen. Hier wird das Leben nicht in abgeschlossenen Abschnitten gemessen, sondern in Prozessen, die enden, sich transformieren und wieder beginnen. Dieses Konzept lädt uns ein, das vergangene Jahr nicht als gescheitert oder erfolgreich zu bewerten, sondern es als einen Abschnitt in einem grösseren Zyklus zu sehen.

Die Orientierung an den Jahreszeiten ist eine praktische Methode, dieses zyklische Denken zu integrieren. Der Frühling kann für Neuanfänge stehen: Welche Projekte oder Beziehungen habe ich begonnen? Der Sommer repräsentiert die Blüte und Fülle: Wo habe ich Erfolge gefeiert, Freundschaften gepflegt oder die Leichtigkeit des Lebens gespürt? Der Herbst fordert uns auf, loszulassen: Was habe ich hinter mir gelassen, sei es freiwillig oder unfreiwillig? Schliesslich bringt der Winter Ruhe und Reflexion: Wo habe ich mich zurückgezogen, um neue Kräfte zu sammeln?

Indem wir das Jahr so betrachten, verschieben wir den Fokus weg von starren Zielen hin zu einem natürlichen Fluss, der Raum für Wachstum und Erneuerung lässt.

Philosophische Perspektiven: Vom Stoizismus bis zur Ubuntu-Philosophie

Philosophie bietet uns universelle Werkzeuge, um das Leben zu reflektieren. Der Stoizismus, eine antike Denkrichtung, hat in den vergangenen Jahren wieder an Bedeutung gewonnen. Die Stoiker lehrten, dass unser Glück nicht von äusseren Umständen abhängt, sondern von unserer inneren Haltung. Epiktet schrieb: «Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern unsere Sicht auf die Dinge.»

Eine praktische, stoische Methode der Reflexion ist das abendliche Tagebuch. Dabei notiert man, welche Herausforderungen man an diesem Tag bewältigt hat und wie man sie besser hätte angehen können. Dieses tägliche Üben hilft, eine Balance zwischen Selbstkritik und Selbstverbesserung zu finden – eine Haltung, die sich auch auf die Jahresbilanz übertragen lässt.

Die Ubuntu-Philosophie aus Afrika erweitert die Reflexion auf die Gemeinschaft. In einer Kultur, in der das «Ich» untrennbar mit dem «Wir» verbunden ist, könnte die Frage lauten: Wie habe ich zur Stärkung meiner Gemeinschaft beigetragen? Diese Perspektive verschiebt den Fokus von individuellen Erfolgen auf soziale Verbindungen und erinnert uns daran, dass unsere Erfolge oft das Ergebnis von Zusammenarbeit und Unterstützung sind.

Psychologische und spirituelle Tools: Neue Wege zur Rückschau

Psychologische Ansätze können unsere Reflexion vertiefen und persönlicher machen. Die narrative Therapie etwa betrachtet das Leben als eine Geschichte, die wir aktiv mitschreiben. Anstatt sich auf Zahlen oder konkrete Ziele zu konzentrieren, könnte man sich fragen: Was war das zentrale Thema meines Jahres? Welche Kapitel habe ich abgeschlossen, und welche Geschichten möchte ich weiterschreiben?

Spirituelle Traditionen bieten weitere Perspektiven. Im Ayurveda steht die Balance der Doshas – Vata, Pitta und Kapha – im Zentrum. Eine Reflexion könnte hier darauf abzielen, wie gut man im Einklang mit seiner Konstitution gelebt hat. War das Jahr von Überarbeitung (Pitta) oder von Zerstreuung (Vata) geprägt? Und wie kann man künftig mehr Stabilität (Kapha) in sein Leben bringen?

Meditative Techniken, wie sie im Zen-Buddhismus praktiziert werden, ergänzen diese Ansätze. Eine geführte Meditation könnte uns helfen, uns mit den Gefühlen und Erlebnissen des vergangenen Jahres zu verbinden, ohne zu urteilen. Diese Art der Reflexion fördert Achtsamkeit und Loslassen, anstatt nur auf Leistung zu blicken.

Kreative Ansätze: Kunst, Schreiben und Gamification

Manchmal sind Worte allein nicht genug, um das Erlebte auszudrücken. Kreative Methoden wie Collagen oder Visual Mapping können uns helfen, das Jahr auf eine andere Weise zu verstehen. Welche Farben oder Symbole repräsentieren die wichtigsten Momente? Welche Bilder tauchen immer wieder auf? Diese Übungen sprechen nicht nur den Verstand, sondern auch das Unterbewusstsein an.

Für visuell denkende Menschen könnte es spannend sein, das Jahr als Comic zu zeichnen. Dabei können Höhepunkte, Tiefpunkte und humorvolle Wendungen dargestellt werden, die in einer traditionellen Reflexion vielleicht übersehen werden.

Gamification bringt eine spielerische Leichtigkeit in die Rückschau. Was waren die «Missionen» meines Jahres? Welche Herausforderungen habe ich gemeistert, und welche «Power-Ups» – sei es Freundschaften, Bücher oder Erkenntnisse – haben mir geholfen? Diese Methode macht die Reflexion greifbarer und weniger belastend.

Technologische Unterstützung: Daten und Tools

Moderne Technologien wie Apples oder Googles Fotos App, Spotify Wrapped oder Social-Media-Statistiken bieten uns eine datenbasierte Perspektive auf das vergangene Jahr. Diese Tools können überraschende Einblicke liefern: Welche Momente haben wir festgehalten? Welche Musik hat uns begleitet?

Selbstmanagement-Apps wie Apples Health, Notion oder Reflectly erlauben es, Erlebnisse und Fortschritte strukturiert festzuhalten. Durch solche digitalen Hilfsmittel können wir nicht nur zurückblicken, sondern auch konkrete Pläne für die Zukunft machen, die realistischer und flexibler sind als herkömmliche Vorsätze.

Ein neuer Blick auf Ziele: Von Kaizen und Ikigai lernen

Das japanische Konzept des Kaizen, das auf kontinuierliche, kleine Verbesserungen setzt, bietet eine stressfreie Alternative zu grossen Vorsätzen. Anstatt sich zu fragen: «Was habe ich dieses Jahr erreicht?», könnte man überlegen: «Welchen kleinen Schritt habe ich gemacht, der mich näher zu einem erfüllteren Leben bringt?»

Ikigai, das Konzept des Lebenssinns, vertieft diese Reflexion. Indem man die Schnittpunkte zwischen dem, was man liebt, worin man gut ist, was die Welt benötigt und wofür man bezahlt werden kann, sucht, entsteht ein klarerer Fokus für das nächste Jahr – und darüber hinaus.

Die Frage nach dem Sinn: Müssen wir jedes Jahr bewerten?

Am Ende steht die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, das Leben Jahr für Jahr zu bewerten. Viktor Frankl erinnert uns daran, dass der Sinn des Lebens nicht vorgegeben ist, sondern individuell gestaltet wird. Vielleicht liegt der Wert der Reflexion nicht in der Beurteilung, sondern in der bewussten Gestaltung des nächsten Kapitels.

Ein konkreter Rat: Ein Ritual der Dankbarkeit

Rituale geben Struktur und Bedeutung. Ein einfaches Ritual, das man zum Jahresende durchführen könnte, ist eine Dankbarkeitszeremonie: Schreiben Sie auf, wofür Sie dankbar sind und was Sie loslassen möchten. Lesen Sie es laut vor und verabschieden Sie es symbolisch – sei es durch Verbrennen, Vergraben oder ein anderes Ritual, das für Sie Sinn ergibt.

Dieses Ritual erinnert daran, dass das Leben nicht perfekt sein muss, um wertvoll zu sein.