Die Freiheit des Ichs: Eine Reflexion über das Gestalt Prayer
Wie viel Freiheit braucht ein Mensch, und wie viel Freiheit verträgt die Welt? Fritz Perls’ «Gestalt Prayer» gibt darauf eine klare, beinahe provozierende Antwort: Jeder sollte seinen eigenen Weg gehen, ohne die Last, Erwartungen erfüllen zu müssen – weder die der anderen noch die eigenen an sie. Doch was bedeutet es, in einer zunehmend vernetzten Gesellschaft so radikal frei zu sein?
Daniel Frei – Manchmal reichen wenige Worte aus, um eine Welt von Gedanken und Gefühlen auszulösen. Das Gestalt Prayer von Fritz Perls beginnt mit den Zeilen: «I do my thing, and you do your thing. I am not in this world to live up to your expectations, and you are not in this world to live up to mine.» Es ist ein einfacher, beinahe lakonischer Satz, doch er birgt eine gewaltige Botschaft. Perls fordert uns auf, nicht nur die Erwartungen anderer an uns zu hinterfragen, sondern auch unsere eigenen an die Welt. Was bedeutet es, «mein Ding» zu machen, und warum ist es so wichtig, dass wir einander von der Last befreien, uns «gerecht zu werden»?
Der historische und philosophische Kontext
Diese Worte stammen aus den 1960er-Jahren, einer Zeit, in der die Gesellschaft ihre Normen infrage stellte. Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie, schrieb das Gebet als eine Art Leitsatz für seine therapeutische Praxis. Die Gestalttherapie selbst betont das Hier und Jetzt, die persönliche Verantwortung und die Notwendigkeit, authentisch zu leben. Doch die Botschaft geht über die Psychotherapie hinaus. Sie erinnert an die Philosophie des Existenzialismus, insbesondere an Jean-Paul Sartres berühmten Satz: «Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.» Sartre meinte damit, dass wir, ob wir wollen oder nicht, die Verantwortung für unser Leben übernehmen müssen. In ähnlicher Weise legt Perls dar, dass wahre Freiheit erst dort beginnt, wo wir aufhören, nach der Zustimmung anderer zu streben.
Die Botschaft des Gebets: Eine Analyse
Nach den einleitenden Zeilen fährt das Gebet fort: «You are you, and I am I.» Hier zeigt sich der Kern der Botschaft. Perls sagt uns, dass wir uns selbst akzeptieren müssen, so wie wir sind, bevor wir wirklich mit anderen in Beziehung treten können. Es ist ein Satz, der an die Worte des amerikanischen Schriftstellers Henry David Thoreau erinnert: «Be yourself—not your idea of what you think somebody else’s idea of yourself should be.» Diese Idee zieht sich wie ein roter Faden durch das Gebet. Sie fordert uns auf, die Fassaden fallen zu lassen und uns selbst zu erkennen.
Besonders eindrücklich wird die Botschaft in den letzten Zeilen: «And if by chance, we find each other, it’s beautiful. If not, it can’t be helped.» Diese Worte bergen eine radikale Akzeptanz des Lebens, wie es ist. Sie sagen: Beziehungen, die auf Zwang oder Schuld basieren, sind nicht echt. Wahre Verbindung entsteht nur, wenn sie freiwillig und ehrlich ist. Das mag hart klingen, doch es ist auch befreiend. Denn es nimmt den Druck, ständig «perfekt» sein zu müssen – für andere oder für sich selbst.
Individuum und Gemeinschaft: Ein Spannungsfeld
Und doch wirft das Gebet eine wichtige Frage auf: Wie können wir individuell, frei und gleichzeitig Teil einer Gemeinschaft sein? In einer Welt, die immer stärker miteinander vernetzt ist, scheint das ein Widerspruch zu sein. Doch Perls’ Worte bieten eine mögliche Lösung. Indem wir unsere eigenen Bedürfnisse und Grenzen respektieren, schaffen wir die Grundlage für echte Beziehungen. «You are you, and I am I» bedeutet nicht, dass wir uns isolieren sollen. Es bedeutet, dass wir nur dann wirklich zusammen sein können, wenn wir uns nicht gegenseitig verbiegen.
Ein Beispiel aus der Literatur verdeutlicht dies: In Truman Capotes Breakfast at Tiffany’s beschreibt Holly Golightly ihre Angst vor dem «Käfig». Sie will frei sein, unabhängig. Doch ihre Beziehungen sind oberflächlich, weil sie nicht weiss, wer sie selbst ist. Das Gestalt Prayer könnte ihr helfen, diesen Käfig zu verlassen – nicht, indem sie andere abweist, sondern indem sie sich selbst erkennt.
Die moderne Relevanz
Heute, wo soziale Medien unsere Identität formen, scheint das Gestalt Prayer aktueller denn je. Wir präsentieren uns online oft als das, was andere von uns sehen wollen. Aber um welchen Preis? Studien zeigen, dass dieses Streben nach Perfektion zu Depressionen und Burn-outs führen kann. Das Gebet von Perls ist ein Gegenentwurf dazu. Es sagt uns: Du bist genug. Du musst nicht jedem gefallen. Wenn wir diese Botschaft wirklich verinnerlichen, könnten wir vielleicht ein Stück Freiheit zurückgewinnen.
Eine Einladung zur Reflexion
«Lose your mind and come to your senses», sagte Fritz Perls einmal. Das Gestalt Prayer ist genau das: eine Einladung, unsere Sinne zu nutzen, um das Leben zu erleben, wie es wirklich ist. Es fordert uns auf, unsere Masken abzulegen und uns selbst und andere zu akzeptieren – so wie wir sind. Es ist keine einfache Aufgabe. Aber es ist eine, die sich lohnt.
Am Ende bleibt das Gebet eine Erinnerung daran, dass wahre Freiheit nicht darin besteht, alles kontrollieren zu können. Sie besteht darin, loszulassen und das Leben zu umarmen – mit all seinen Zufällen und Unvollkommenheiten. Und, vielleicht, nur vielleicht, liegt darin die grösste Schönheit.
Quellen
Perls, Fritz. Gestalt Therapy Verbatim. Real People Press, 1969.
Sartre, Jean-Paul. Das Sein und das Nichts. Rowohlt, 1993.
Thoreau, Henry David. Walden. Ticknor and Fields, 1854.
Capote, Truman. Breakfast at Tiffany’s. Random House, 1958.
Müller, Robert. Die Gestalttherapie: Einführung und Grundlagen. Beltz Verlag, 2010.