Gibt es «richtige» und «falsche» Gefühle? Eine Erkundung unserer emotionalen Landschaft

In der paradoxen Welt unserer Gefühle stossen wir auf die Idee, dass es «richtige» und «falsche» gibt. Diese Vorstellung, tief verwurzelt in kulturellen Normen, Erfahrungen, Prägungen und persönlichen Überzeugungen, beeinflusst, wie wir unsere eigenen Gefühle und die der anderen wahrnehmen. Doch was verbirgt sich wirklich hinter diesen Begriffen? Ein Text über die Natur unserer Gefühle, über die Unterscheidung zwischen «richtig» und «falsch» zu hinterfragen und über die Bedeutung liebevoller Akzeptanz aller unserer Gefühle.

Die Botschaften unserer Emotionen erkennen und ein tieferes Verständnis für unsere Bedürfnisse und Wünsche zu entwickeln. Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Die Idee, dass bestimmte Gefühle erwünscht sind, während wir andere vermeiden sollen, ist ein Produkt sozialer und kultureller Prägung. Freude, Glück, Erfolg und Zufriedenheit werden oft als «richtige» Gefühle angesehen, die gefördert und angestrebt werden sollten. Traurigkeit, Wut, Eifersucht, Hass und Angst hingegen gelten als unerwünscht, als Gefühle, die es zu überwinden oder zu verbergen gilt. Diese Dichotomie übersieht jedoch die grundlegende Wahrheit, dass alle Gefühle einen Wert haben und Teil des menschlichen Erlebens sind.

Wissenschaftliche Einsichten: die Rolle der Emotionen

Psychologie und Neurowissenschaft lehren uns, dass Gefühle eine fundamentale Rolle in unserem Leben spielen. Sie beeinflussen unsere Entscheidungsfindung, unser Sozialverhalten und unsere körperliche Gesundheit. Forschungen zeigen, dass das Unterdrücken von als «falsch» betrachteten Gefühlen zu erhöhtem Stress und zu psychischen Problemen führen kann. Gefühle zu erleben – egal, welche – ist essenziell für ein ausgewogenes und gesundes Leben.

Sie sind tief in der menschlichen Evolution verankert und haben sich als überlebenswichtig erwiesen. Nach der Theorie der «Basisemotionen» von Paul Ekman gibt es sechs grundlegende Emotionen – Freude, Traurigkeit, Angst, Wut, Überraschung und Ekel –, die universell in allen Kulturen erkannt und erlebt werden. Diese Emotionen haben jeweils spezifische adaptive Funktionen. Angst kann etwa vor Gefahr warnen und somit das Überleben sichern, während Freude soziale Bindungen stärkt und das Wohlbefinden fördert.

Die Entscheidungsfindung wird stark durch Gefühle beeinflusst. Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio hat in seinen Arbeiten gezeigt, dass Emotionen für rationale Entscheidungen unverzichtbar sind. In seinem berühmten Fallbeispiel des Patienten Elliot, der nach einer Hirnoperation keine Emotionen mehr empfand, aber ansonsten kognitiv intakt war, stellte sich heraus, dass Elliot unfähig war, alltägliche Entscheidungen zu treffen. Damasio postulierte daraufhin die Theorie der somatischen Marker, nach der emotionale Reaktionen als Leitlinien für unser Verhalten und unsere Entscheidungen dienen.

Überdies spielen Gefühle eine entscheidende Rolle in unserem Sozialverhalten. Laut der sozialpsychologischen Theorie der emotionalen Intelligenz von Daniel Goleman ist die Fähigkeit, die eigenen Emotionen und die der anderen zu erkennen und zu regulieren, wesentlich für den Erfolg in sozialen Interaktionen und Beziehungen. Personen mit hoher emotionaler Intelligenz zeigen in der Regel bessere soziale Fähigkeiten, sind erfolgreicher im Berufsleben und haben stabilere und erfüllendere persönliche Beziehungen.

Die Auswirkungen von Emotionen auf die körperliche Gesundheit sind ebenfalls gut dokumentiert. Chronischer Stress, der durch die Unterdrückung negativer Emotionen wie Angst und Wut verursacht werden kann, ist mit einer Vielzahl von gesundheitlichen Problemen verbunden, darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, geschwächtes Immunsystem und Magen-Darm-Störungen. Eine Studie, die in der Zeitschrift «Psychosomatic Medicine» veröffentlicht wurde, fand heraus, dass Menschen, die ihre Emotionen offen ausdrücken, niedrigere Stresshormonspiegel und ein stärkeres Immunsystem aufweisen.

Die Unterdrückung von Emotionen hat zudem gravierende psychische Auswirkungen. Eine Meta-Analyse von Studien zum Zusammenhang zwischen emotionaler Unterdrückung und psychischen Störungen, veröffentlicht im «Journal of Abnormal Psychology», ergab, dass Menschen, die ihre Emotionen chronisch unterdrücken, ein höheres Risiko für Depressionen, Angststörungen und andere psychische Erkrankungen haben. Das Akzeptieren und Ausleben von Emotionen hingegen fördert die psychische Resilienz und das allgemeine Wohlbefinden.

Philosophische Betrachtungen: Die Akzeptanz des Fühlens

Philosophen wie Baruch Spinoza und Friedrich Nietzsche haben die Bedeutung der Emotionen für ein erfülltes Leben intensiv erörtert. Ihre Einsichten bieten wertvolle Perspektiven darauf, wie das Erleben und Akzeptieren von Emotionen uns tiefer mit unserem eigenen Selbst, mit anderen Menschen und mit dem Leben als Ganzes verbinden kann.

Baruch Spinoza, ein niederländischer Philosoph des 17. Jahrhunderts, betonte in seiner Ethik die zentrale Rolle der Emotionen (von ihm als «Affekte» bezeichnet) in unserem Leben. Spinoza sah Emotionen nicht als störende Kräfte, sondern als wesentliche Ausdrucksformen unserer menschlichen Natur. Er argumentierte, dass das Verständnis und die Akzeptanz unserer Emotionen zu einem höheren Grad an Selbstbestimmung und innerer Freiheit führen können.

Spinoza differenzierte zwischen passiven und aktiven Affekten. Passive Affekte sind jene, die uns widerfahren und uns oft überwältigen, während aktive Affekte aus einem tieferen Verständnis unserer selbst und unserer Umgebung resultieren und uns in die Lage versetzen, bewusstere Entscheidungen zu treffen. Durch das Streben nach Wissen und Weisheit können wir die Macht unserer aktiven Affekte stärken und somit ein erfüllteres und glücklicheres Leben führen.

Friedrich Nietzsche, ein deutscher Philosoph des 19. Jahrhunderts, betonte die Bedeutung der Emotionen im Kontext der Lebensbejahung. In seinem Werk «Also sprach Zarathustra» sowie in anderen Schriften propagierte Nietzsche die Idee des «amor fati» – die Liebe zum Schicksal. Dies impliziert, dass man alle Aspekte des Lebens, einschliesslich der negativen Emotionen, akzeptieren und lieben sollte.

Nietzsche sah Emotionen als notwendige Mittel, um die Tiefe und Fülle des Lebens zu erfahren. Er schrieb: «Was mich nicht umbringt, macht mich stärker,» und betonte damit, dass auch schmerzliche Erfahrungen und die damit verbundenen Emotionen zur persönlichen Entwicklung beitragen können. Für Nietzsche war die Akzeptanz und das Durchleben von Emotionen ein Weg, um authentisch und wahrhaftig zu leben.

Die Verbindung von Philosophie und moderner Psychologie

Die philosophischen Betrachtungen von Spinoza und Nietzsche finden Resonanz in modernen psychologischen Theorien und Studien. Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), eine moderne Form der Psychotherapie, betont die Bedeutung der Akzeptanz von Emotionen, um psychisches Wohlbefinden zu fördern. Eine Studie, die im «Journal of Consulting and Clinical Psychology» veröffentlicht wurde, zeigte, dass ACT wirksam ist, um Depressionen und Angststörungen zu lindern, indem sie den Patienten hilft, ihre Emotionen zu akzeptieren und nicht zu unterdrücken.

Das Akzeptieren und Ausdrücken von Emotionen stärkt auch zwischenmenschliche Verbindungen. Der Sozialpsychologe Carl Rogers, ein Vertreter der humanistischen Psychologie, betonte die Bedeutung der «bedingungslosen positiven Zuwendung» in Beziehungen. Rogers argumentierte, dass das vollständige Akzeptieren der eigenen und der Emotionen anderer zu tieferen und authentischeren Verbindungen führt.

Philosophische und psychologische Perspektiven zeigen, dass die Akzeptanz von Emotionen ein Weg zu einem authentischen und erfüllten Leben ist. Indem wir unsere Emotionen nicht als Hindernisse, sondern als wertvolle Aspekte unserer menschlichen Erfahrung betrachten, öffnen wir uns für ein reiches, tiefes und bedeutungsvolles Dasein.

Die Praxis der emotionalen Akzeptanz

Die Praxis der emotionalen Akzeptanz fordert uns auf, unsere Emotionen nicht in «richtig» und «falsch» zu kategorisieren, sondern jedem Gefühl mit Offenheit und Neugier zu begegnen. Diese Haltung ermöglicht es uns, die Botschaften unserer Emotionen zu erkennen und ein tieferes Verständnis für unsere Bedürfnisse und Wünsche zu entwickeln. Gleichzeitig fördert sie Mitgefühl für uns selbst und andere, insbesondere in Momenten des Kampfes oder der Verletzlichkeit.

Hier sind einige Einblicke, wissenschaftliche Erkenntnisse und praktische Ansätze zur Förderung emotionaler Akzeptanz.

Botschaften der Emotionen erkennen

Emotionen dienen als wichtige Signale, die uns über unsere inneren Zustände informieren und uns auf unsere Bedürfnisse hinweisen. Die Theorie der Emotionen von Nico Frijda betont, dass Emotionen uns zu Handlungen motivieren, die unser Wohlbefinden fördern. Angst weist etwa auf eine potenzielle Bedrohung hin und motiviert uns, Schutz zu suchen, während Freude uns signalisiert, dass wir uns in einer förderlichen Umgebung befinden und unser Verhalten verstärken sollten, um diese positiven Erfahrungen zu wiederholen.

Eine Studie, die im «Journal of Personality and Social Psychology» veröffentlicht wurde, zeigte, dass das Erkennen und Benennen von Emotionen – ein Prozess, der als «Emotionale Granularität» bezeichnet wird – mit einer besseren psychischen Gesundheit und einem höheren Wohlbefinden verbunden ist. Personen mit hoher emotionaler Granularität sind in der Lage, ihre Emotionen differenziert zu beschreiben und somit besser auf ihre Bedürfnisse und Wünsche einzugehen.

Mitgefühl für sich selbst und andere kultivieren

Selbstmitgefühl ist ein wesentlicher Bestandteil der emotionalen Akzeptanz. Dr. Kristin Neff, eine führende Forscherin auf dem Gebiet des Selbstmitgefühls, beschreibt Selbstmitgefühl als die Fähigkeit, sich selbst in Zeiten des Leidens mit Freundlichkeit, Verständnis und Geduld zu begegnen. Ihre Forschung hat gezeigt, dass Selbstmitgefühl mit geringeren Symptomen von Depression und Angst sowie mit einer höheren Lebenszufriedenheit korreliert.

Eine Meta-Analyse von 79 Studien, die im «Journal of Clinical Psychology» veröffentlicht wurde, fand heraus, dass Selbstmitgefühl signifikant mit positiven psychischen Gesundheitsmerkmalen wie Lebenszufriedenheit, emotionalem Wohlbefinden und Resilienz verbunden ist. In der Praxis bedeutet dies, dass wir uns selbst in Momenten des Kampfes oder der Verletzlichkeit unterstützen und ermutigen sollten, anstatt uns zu kritisieren oder zu verurteilen.

Praktische Ansätze zur emotionalen Akzeptanz

  • Achtsamkeit: Achtsamkeit ist die Praxis, im gegenwärtigen Moment präsent zu sein und unsere Erfahrungen ohne Bewertung wahrzunehmen. Forschungsergebnisse, die in der Zeitschrift «Mindfulness» veröffentlicht wurden, zeigen, dass Achtsamkeitstraining die Fähigkeit zur emotionalen Akzeptanz fördert und zu einer besseren Emotionsregulation führt. Durch Achtsamkeit können wir lernen, unsere Emotionen zu beobachten und zu akzeptieren, ohne uns von ihnen überwältigen zu lassen.

  • Emotionale Reflexion: Das Führen eines Emotionstagebuchs kann uns helfen, unsere Gefühle besser zu verstehen und ihre zugrunde liegenden Ursachen zu identifizieren. Eine Studie in der «Journal of Research in Personality» zeigte, dass das regelmäßige Schreiben über Emotionen die emotionale Klarheit verbessert und zu einer besseren Emotionsregulation beiträgt.

  • Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT): ACT ist eine evidenzbasierte Form der Psychotherapie, die darauf abzielt, die emotionale Akzeptanz zu fördern und den Fokus auf wertorientiertes Handeln zu legen. Studien haben gezeigt, dass ACT wirksam ist bei der Reduzierung von Symptomen von Angst und Depression sowie bei der Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität.

  • Mitgefühl für andere: Mitgefühl für andere zu kultivieren bedeutet, sich in die Lage anderer zu versetzen und ihre Gefühle und Erfahrungen zu verstehen. Der Sozialpsychologe Dr. Daniel Batson hat gezeigt, dass Mitgefühl das Wohlbefinden verbessert und die Bereitschaft erhöht, anderen zu helfen. Eine Studie, die im «Journal of Social Issues» veröffentlicht wurde, fand heraus, dass Menschen, die Mitgefühl praktizieren, bessere zwischenmenschliche Beziehungen haben und insgesamt zufriedener mit ihrem Leben sind.

Die Praxis der emotionalen Akzeptanz erfordert, dass wir unseren Gefühlen mit Offenheit und Neugier begegnen, die Botschaften unserer Emotionen erkennen und Mitgefühl für uns selbst und andere kultivieren. Diese Ansätze, unterstützt durch wissenschaftliche Forschung, fördern unser emotionales Wohlbefinden, stärken unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und ermöglichen es uns, ein authentisches und erfülltes Leben zu führen.

Eine Einladung zur emotionalen Freiheit und Überwindung der Dichotomie von «richtigen» und «falschen» Gefühlen

Die Vorstellung von «richtigen» und «falschen» Gefühlen dient letztlich also nur dazu, unsere emotionale Erfahrung einzuschränken. Indem wir diese künstlichen Grenzen überwinden und lernen, alle unsere Gefühle als wertvolle Teile unseres Seins zu umarmen, können wir einen Weg zu tieferer emotionaler Freiheit und Wohlbefinden finden. Lasst uns gemeinsam die Schönheit und Komplexität unserer emotionalen Landschaft feiern – denn am Ende des Tages ist es das Fühlen selbst, das uns lebendig macht.

Die Klassifizierung von Emotionen in «richtig» und «falsch» basiert oft auf kulturellen, gesellschaftlichen und individuellen Normen. Diese Dichotomie kann dazu führen, dass wir bestimmte Gefühle unterdrücken oder vermeiden, was langfristig zu emotionaler Dissonanz und psychischen Problemen führen kann.

Psychologin Brené Brown argumentiert in ihrem Buch «The Gifts of Imperfection», dass die Akzeptanz unserer emotionalen Verletzlichkeit ein Schlüssel zur Verbindung mit anderen und zu einem authentischen Leben ist. Brown betont, dass die Scham, die oft mit dem Erleben «negativer» Emotionen einhergeht, uns davon abhält, vollständig zu leben und echte Verbindungen einzugehen.

Emotionale Freiheit und Wohlbefinden

Emotionale Freiheit bedeutet, alle unsere Gefühle – positive wie negative – zu akzeptieren und zu würdigen. Diese Freiheit ermöglicht es uns, unsere Emotionen als integralen Bestandteil unserer menschlichen Erfahrung zu sehen und nicht als etwas, das kontrolliert oder unterdrückt werden muss. Eine Studie im «Journal of Positive Psychology» fand heraus, dass Menschen, die ihre Emotionen akzeptieren, ein höheres Mass an Lebenszufriedenheit und ein besseres allgemeines Wohlbefinden erleben.

Dr. Susan David, eine führende Psychologin und Autorin des Buches «Emotional Agility», betont weiter, dass die Fähigkeit, unsere Emotionen flexibel und offen zu erleben, ein entscheidender Faktor für psychische Gesundheit und Erfolg ist. David beschreibt emotionale Beweglichkeit als die Fähigkeit, unsere inneren Erfahrungen zu akzeptieren, ohne von ihnen überwältigt zu werden, und mit Klarheit und Wertorientierung zu handeln.

Die Schönheit und Komplexität unserer emotionalen Landschaft feiern

Die Feier der gesamten Palette unserer Emotionen ist ein Akt der Selbstliebe und Selbstakzeptanz. Emotionen verleihen unserem Leben Tiefe und Bedeutung. Sie sind die Farbpalette, mit der wir die Leinwand unseres Lebens gestalten. Indem wir die Komplexität unserer emotionalen Landschaft anerkennen und schätzen, können wir ein reicheres und erfüllteres Leben führen.

In der Praxis bedeutet dies, dass wir uns erlauben, Traurigkeit, Angst, Wut, Hass, Neid, Freude, Liebe und all die Zwischentöne zu fühlen und zu erleben. Die Einladung zur emotionalen Freiheit fordert uns auf, die Dichotomie von «richtigen» und «falschen» Gefühlen zu überwinden und alle unsere Emotionen als wertvolle Teile unseres Seins zu akzeptieren. Diese Haltung ermöglicht tiefere Selbstakzeptanz, Resilienz und zwischenmenschliche Verbindungen. Indem wir die Schönheit und Komplexität unserer emotionalen Landschaft feiern, finden wir einen Weg zu einem authentischen, erfüllten und lebendigen Leben. Denn am Ende des Tages ist es das Fühlen selbst, das uns lebendig macht.