Sind wir bereit für den kommenden Verlust an Erwerbsarbeit? Über den Umbau unserer Gesellschaft – und die Rückkehr zur gemeinschaftlichen Verantwortung
Automatisierung, Roboter, KI und Plattformökonomie verändern unsere Arbeitswelt grundlegend. Immer mehr klassische Jobs verschwinden – leise und unumkehrbar. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft, deren Selbstverständnis auf Erwerbsarbeit basiert? Die Zukunft der Arbeit ist gemeinschaftlich – nicht erwerbszentriert. Darum brauchen wir eine neue Kultur des Tätig seins. Ein bedingtes Grundeinkommen ist der Schlüssel zu einem stabilen, sinnvollen und gerechten Gesellschaftsmodell. Nicht Almosen, sondern ein verlässlicher Vertrag. Wer beiträgt, wird getragen. Warum die grösste Herausforderung nicht technologisch, sondern kulturell ist – und wie wir ihr mit Verantwortung, Teilhabe und Mut begegnen können.
Was kommt, wenn die Arbeit geht? Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Noch halten wir fest an der alten Ordnung. An der Idee, dass Arbeit das Zentrum des Lebens sei, der Antrieb unseres Wirtschaftens, der Taktgeber unserer Tage und Nächte. Wir optimieren, re-qualifizieren, digitalisieren – als könnten wir damit das Fundament bewahren, auf dem unser Selbstbild ruht: Wer arbeitet, zählt. Wer nicht arbeitet, fällt. Und doch spüren wir längst, dass sich etwas verschiebt. Unter der Oberfläche unserer Wohlstandsgesellschaft bröckelt ein Konsens. Nicht abrupt, sondern schleichend. Nicht laut, sondern leise. Was einst stabil erschien, verliert seine Form. Und mit ihr verlieren wir mehr als nur Erwerbsplätze. Wir verlieren eine kulturelle Ordnung.
Aber was kommt dann? Wenn die Arbeit geht – was bleibt?
Die Arbeit geht – was bleibt
Der Rückgang der Erwerbsarbeit kündigt sich nicht mit Pauken und Trompeten an. Keinem schwarzen Montag. Keinem Päng. Stattdessen: stille Prozesse. Automatisierung, Künstliche Intelligenz, Plattformlogik. Ganze Berufsgruppen verschwinden – nicht auf einen Schlag, schleichend. Es ist, als würde sich der Boden unter unserem Alltag langsam, fast zärtlich, in etwas anderes verwandeln.
Doch was heisst das für unsere Gesellschaft, die Arbeit zur Achse ihrer Selbstdeutung gemacht hat? Was passiert, wenn das grosse Zahnrad zum Stillstand kommt – oder sich nur noch für wenige dreht?
Die Erwerbsarbeit als Leitkultur
Seit Jahrhunderten ist Erwerbsarbeit nicht bloss Mittel zum Zweck, sondern Identitätsstiftung. «Was machst du beruflich?» ist keine Frage nach Einkommen – es ist eine Frage nach Zugehörigkeit. Die Lohnarbeit hat Ordnung geschaffen. Zeit strukturiert. Status verliehen. Die bürgerliche Moral hat sich tief in unseren Selbstwert eingeschrieben: Nur wer arbeitet, ist etwas wert.
Doch dieser Zusammenhang bröckelt. Roboter ersetzen die Fliessbandkraft. Algorithmen den Analytiker. Chatbots übernehmen den Kundendienst. Wir werden effizienter – indem wir uns überflüssig machen. Und plötzlich steht eine Gesellschaft da, die sich fragen muss: Wer sind wir, wenn wir nicht mehr arbeiten müssen? Oder nicht mehr dürfen?
Das Ende der Erwerbsarbeit – und der Anfang der Leerstelle
Es ist ein Denkfehler zu glauben, dass mit der Erwerbsarbeit auch das Tätig sein verschwindet. Vielmehr entsteht eine Leerstelle, die gefüllt werden will. Eine Zeitspanne, ein Lebensraum, eine Sinnlücke. Die Frage ist nicht: Wie schaffen wir neue Jobs? Sondern: Wie gestalten wir ein Leben, in dem bezahlte Arbeit nicht das Mass aller Dinge ist?
Hier wird der Ruf laut nach neuen sozialen Lösungen – und viele landen beim bekannten Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens. Doch dieses Modell greift zu kurz. Denn es ignoriert etwas Grundlegendes: den menschlichen Wunsch, gebraucht zu werden.
Bedingtes Grundeinkommen: Pflicht zur Mitgestaltung
Ein realistischer, tragfähiger Weg liegt im bedingten Grundeinkommen. Nicht als Sozialalmosen – sondern als neues Gesellschaftsmodell. Wer nicht mehr im klassischen Sinn arbeitet, beteiligt sich stattdessen an der Pflege und Gestaltung der Gemeinschaft. Nicht als Zwang. Als Vertrag.
Pflege älterer Menschen. Betreuung von Kindern. Engagement im Umweltschutz. Gemeindearbeit, Kunst, Bildung, Demokratiepflege. Alles, was dem sozialen, ökologischen oder kulturellen Leben dient, wird als Beitrag anerkannt. Tätigkeiten, die bislang unsichtbar oder unbezahlt waren, erhalten eine neue gesellschaftliche Wertschätzung – und ein Einkommen.
Das bedingte Grundeinkommen ist kein Ersatz für Erwerbsarbeit. Sondern eine neue Form von Bürgerschaft. Ein Tausch: finanzielle Sicherheit gegen Beteiligung am Gemeinwohl. Nicht: «Wer nichts tut, bekommt etwas.» Sondern: «Wer beiträgt, wird getragen.»
Die Rückkehr zur Verantwortung
Ein solches Modell transformiert nicht nur unsere Wirtschaft – sondern unser Menschenbild. Es stellt nicht den «freien Markt» ins Zentrum, sondern die freie Verantwortung. Es ermöglicht individuelle Lebensgestaltung – ohne den Zerfall des kollektiven Fundaments.
Denn was uns droht, ist keine ökonomische Krise. Sondern eine psychologische, eine Sinnkrise. Wenn Millionen (oder Milliarden) von uns ohne Rolle, ohne Aufgabe, ohne Sichtbarkeit sind, entsteht nicht Freiheit – sondern Entfremdung. Wer nicht gebraucht wird, wird gefährdet. Und gefährlich.
Das bedingte Grundeinkommen ist daher nicht ein sozialpolitischer Vorschlag. Es ist ein kultureller Rettungsanker. Es sichert nicht nur Existenzen, sondern auch unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Neue Arbeit: Gemeinschaft statt Karriere
Stellen wir uns vor: Eine Gesellschaft, in der nicht gefragt wird, wie viel du verdienst, sondern wozu du beiträgst. In der wir Projekte anpacken, weil sie sinnvoll sind – nicht, weil sie profitabel sein müssen. In der gemeinschaftliche Arbeit, Sorge, Bildung, Vermittlung, Vermittlung von Werten oder Nachhaltigkeit wieder im Zentrum stehen. Nicht als romantisches Ideal, sondern als neues ökonomisches Fundament.
Diese neue Arbeit ist nicht Erwerbsarbeit im klassischen Sinn. Sie ist nicht fremdbestimmt, sondern gemeinwohlorientiert. Sie ist nicht hierarchisch, sondern kooperativ. Und sie bringt zurück, was unsere Leistungsgesellschaft fast verloren hat: Anerkennung, Beteiligung, Sinn.
Sind wir bereit?
Nein. Aber wir stehen am Rand der Entscheidung. Entweder wir versuchen, ein sterbendes Erwerbsarbeitsmodell künstlich zu beatmen – oder wir nutzen den Moment für eine Neuausrichtung. Weg vom Diktat der Leistung um ihrer selbst willen. Hin zu einer Kultur der Teilhabe.
Der Verlust an Erwerbsarbeit ist kein Verlust an Wert. Sondern die Einladung, Wert neu zu definieren. Nicht durch Geld, sondern durch Wirkung. Nicht durch Stellenbeschrieb, sondern durch gesellschaftliche Präsenz.
Die Zukunft fragt nicht, was du arbeitest. Sondern, was du beiträgst. Und ob du bereit bist, Teil eines grösseren Ganzen zu sein. Das bedingte Grundeinkommen wäre ein möglicher Schlüssel dafür. Keine Lösung für alles – aber ein Anfang. Ein Rahmen, in dem wir uns selbst neu erfinden können.
Vielleicht nicht als Arbeitskräfte. Sondern als Menschen.