Unruhe ist kein Fehler: Das Credo der schöpferischen Unruhe

Die meisten wollen endlich zur Ruhe kommen. Aber was, wenn genau das der Fehler ist? Wenn nicht Ruhe, sondern Unruhe das eigentliche Lebenszeichen ist – der leise Aufbruch, das erste Vibrieren einer Idee? Ein neues Credo: schöpferische Unruhe als Haltung. Nicht als Defizit, sondern als Mut zur Lebendigkeit. Eine Einladung, wach zu bleiben – und weiterzugehen, auch wenn alles nach Stillstand schreit.

Die meisten wollen endlich zur Ruhe kommen. Aber was, wenn genau das der Fehler ist? Fotografie: Daniel Frei

Die meisten wollen endlich zur Ruhe kommen. Aber was, wenn genau das der Fehler ist? Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Die meisten fürchten Unruhe. Sie deuten sie als Mangel an Ausgeglichenheit, als Defizit. Als Zeichen, dass etwas nicht stimmt. Aber was, wenn Unruhe kein Mangel ist – sondern ein Anfang? Ein feines Zittern vor der Geburt von etwas Neuem?

Man verspricht uns Frieden, wenn wir uns nur endlich beruhigen. Herunterkommen. Durchatmen. Uns selbst optimieren, damit das Innen dem Aussen nicht mehr widerspricht. Aber was, wenn genau dieses «Stimmenmüssen» uns taub macht? Was, wenn die Unruhe aber das eigentliche Lebenszeichen ist? Eine Haltung, die nicht negativ ist, sondern lebendig, wach, mutig, offen?

Jean-Paul Sartre: «Ich bin der, der ich mich mache.» Dieser Satz ist unbequem. Denn wer sich selbst macht, ist nie fertig. Und wer nie fertig ist, ist dauernd unterwegs. Unruhe ist kein Fehler des Systems. Sie ist der Motor.

Das falsche Ideal der Ruhe

Ruhe gilt als Ideal. Als Zeichen von Souveränität, Selbstkontrolle, Reife. Die stille Tasse Tee in der Morgensonne. Die tiefen Atemzüge. Das Zentrum inmitten des Chaos.

Aber echte Ruhe ist nicht das Gegenteil von Unruhe. Sie ist das Resultat von Bewegung. Von ehrlicher Auseinandersetzung. Von Wandel. Die glatte Oberfläche des Sees entsteht, nachdem die Wellen sich gelegt haben – nicht, weil es nie welche gab.

Die schöpferische Unruhe widerspricht diesem trügerischen Ideal. Sie sagt: Lass dich stören. Lass dich aufrütteln. Du bist kein Möbelstück in einem Meditationszimmer. Du bist ein Tier in Bewegung. Ein Mensch, der lebt, der will, der sucht, der sehnt und sieht.

Der kreative Impuls des Mangels

Woher kommt der Drang, etwas zu schaffen? Nicht aus Fülle. Sondern aus Mangel. Aus Leere. Aus dem «Da fehlt noch was». Künstlerinnen, Denker, Unternehmer, Aktivistinnen – sie alle eint eine Spannung, ein inneres Ziehen, das nicht nachlässt. Keine Wellness, kein «Alles gut so». Keine Work-Life-Balance. Sondern ein: «Und jetzt?»

Es ist ein Jucken unter der Haut, das nicht aufhört, bevor man nicht gehandelt hat. Unruhe als Sehnsucht, nicht Störung. Als Energie, nicht Pathologie. Der kreative Mensch ist ein unruhiger Mensch. Und das ist keine Krankheit, sondern seine Berufung.

Wachheit statt Alarmismus

Schöpferische Unruhe ist nicht dieselbe wie Angst. Sie ist keine Panik. Kein hektisches Flackern. Sie ist eine Wachheit. Eine Bereitschaft. Ein aufmerksames Lauschen: Was bewegt sich da? Wo entsteht ein Riss? Was ruft?

Sie sieht die Brüche der Welt nicht als Katastrophen, sondern als Einladungen. Sie weiss: Wo es kracht, kann etwas Neues entstehen. Nicht aus Zerstörungswut. Sondern aus der Ahnung: Es geht mehr. Und dieses Mehr will nicht abgewartet, sondern gestaltet werden.

Die schöpferische Unruhe ist wie ein Vogel, der nicht bleibt, wo er ist – selbst wenn der Ast stark ist. Denn er weiss: Fliegen ist kein Sicherheitsrisiko. Es ist seine Natur.

Mut zur Störung

Wer schöpferisch unruhig ist, stört. Unweigerlich. Er passt nicht ins System, das sagt: «So ist es. So bleibt es.» Er fragt: «Warum eigentlich?» Und das ist gefährlich. Für Hierarchien. Für Routinen. Für alle, die sich in Ruhe eingerichtet haben – auf Kosten der Lebendigkeit.

Die schöpferische Unruhe fragt nicht nur: «Was stimmt nicht?» Sie fragt auch: «Was könnte besser sein?» Sie will nicht bloss kritisieren. Sie will gestalten. Umbauen. Überschreiten. Und dafür braucht es Mut. Den Mut, nicht immer verstanden zu werden. Den Mut anzuecken. Den Mut, nicht anzukommen, sondern aufzubrechen.

Eine Haltung – kein Zustand

Schöpferische Unruhe ist keine Phase, die vergeht. Sie ist auch kein Burn-out-Symptom. Sie ist eine Haltung. Eine Entscheidung. Eine Art, die Welt zu betrachten. Offen. Neugierig. Bereit, sich infrage zu stellen.

Sie ist nicht hektisch. Nicht destruktiv. Nicht überdreht. Sondern lebendig. Wach. Mutig. Offen. Und sie lebt vom inneren Kompass, nicht von äusserer Bestätigung. Sie braucht keine Likes. Sie braucht Resonanz. Kein Applaus. Begegnung.

Ein neues Credo

Das neue Credo der schöpferischen Unruhe könnte lauten: Ich darf mich nicht beruhigen, wenn die Welt sich verhärtet. Ich darf mich nicht einrichten in einem System, das andere ausschliesst. Ich darf nicht still sein, wenn Wandel nötig ist. Meine Unruhe ist mein Beitrag. Sie macht mich wach. Sie hält mich lebendig. Sie führt mich zum Mut. Und vielleicht auch zu dir.

So wird die Unruhe zum Bekenntnis. Nicht zu einer Krankheit. Sondern zu einer Form von Liebe. Liebe zur Welt, zur Wahrheit, zum Werden. Denn wer liebt, bleibt nicht stehen.

Er geht los. Unruhig. Und schöpferisch.