Verändern wir uns nur für uns selbst?
Veränderung ist keine einsame Entscheidung. Sosehr wir glauben möchten, uns aus freiem Willen und nur für uns selbst zu verändern – in Wahrheit geschieht Wandel fast immer im Zusammenspiel mit anderen. Zwischen Selbstbestimmung und sozialer Resonanz, zwischen innerem Drang und äusserem Spiegel stellt sich die zentrale Frage: Verändern wir uns wirklich nur für uns selbst – oder weil andere uns dazu bewegen?
Wir sind Resonanzkörper und schwingen im Zusammenspiel mit anderen. Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Veränderung ist das zentrale Thema des Menschseins. Jede:r verändert sich – manchmal schleichend, manchmal eruptiv, manchmal gewollt, manchmal erzwungen. Und doch bleibt eine Frage hartnäckig stehen in der Landschaft unserer Selbstbeobachtung: Verändern wir uns nur für uns selbst?
Oder spielen andere eine grössere Rolle, als wir zugeben möchten? Sind wir, mit all unserem Freiheitsstreben und unserer Individualität, letztlich doch getrieben – von Erwartungen, von Liebe, von Schuld, von der Angst, nicht zu genügen?
Der Mythos vom autonomen Wandel
In vielen Lebensratgebern, Podcasts und Selbsthilfeformaten wird ein Bild vom Menschen gezeichnet, der sich aus sich selbst heraus wandelt: «Du musst dich selbst lieben», heisst es, «verändere dich für dich – nicht für die anderen». Dieser Appell klingt gut. Selbstbestimmt. Stark. Und oft auch ein wenig trotzig. Doch ist er auch wahr?
Die Psychologie sagt: nur bedingt. Menschen sind soziale Wesen. Die Bindungstheorie (Bowlby, Ainsworth) zeigt, wie sehr unsere Entwicklung von zwischenmenschlichen Beziehungen geprägt ist – und auch, wie sehr Veränderung im Erwachsenenalter von Beziehungserfahrungen beeinflusst wird. Es ist deshalb kaum realistisch, uns als isolierte Wesen zu sehen, die sich in einem Vakuum entwickeln. Vielmehr sind wir Resonanzkörper: Wir schwingen im Zusammenspiel mit anderen.
Veränderung als Antwort auf Beziehung
Manche der tiefsten Veränderungen geschehen wegen anderer Menschen. Ein Kind zwingt uns, Verantwortung zu übernehmen. Ein Partner, der uns verlässt, bringt uns dazu, über unser Verhalten nachzudenken. Eine Kollegin, die uns spiegelt, wie wir wirken, lässt uns wachsen.
Der Philosoph Martin Buber formulierte es so: «Der Mensch wird am Du zum Ich.» Heisst: Wir finden uns nicht in uns selbst, sondern in der Beziehung zum Anderen. Ohne das Du gäbe es kein Ich, und ohne die Aussenwelt keine Innenwelt. So gesehen ist jede echte Veränderung immer auch eine Antwort. Eine Reaktion. Eine Bewegung im Dialog.
Und doch: die innere Instanz
Gleichzeitig gibt es sie natürlich, die Veränderung aus der Tiefe des eigenen Erkennens. Eine Einsicht, ein innerer Ruf, eine Unruhe, die in uns wächst, unabhängig davon, ob jemand zuschaut. Solche Veränderungen sind oft die nachhaltigen. Sie wurzeln nicht in der Anpassung, sondern in der Wahrhaftigkeit. Sie entstehen, wenn wir erkennen, dass unser Leben nicht mehr stimmig ist. Dass wir uns selbst nicht mehr treu sind.
In diesen Momenten ist es vielleicht gerade der Rückzug aus der Beziehung, der den Raum für die Veränderung schafft. In der Stille. In der Abgrenzung. In der radikalen Ehrlichkeit mit uns selbst.
Der Schatten der Anpassung
Gefährlich wird Veränderung dann, wenn sie ausschliesslich der Anpassung dient. Wer sich nur verändert, um Erwartungen zu erfüllen, läuft Gefahr, sich selbst zu verlieren. «Wenn ich so bin, wie du mich willst – wer bin ich dann überhaupt?», fragte die Schriftstellerin Christa Wolf. Eine zu starke Anpassung erzeugt innere Spannung, oft auch Krankheit, Depression, Leere.
In einer Gesellschaft, die Likes vergibt und Identitäten algorithmisch vermarktet, ist es schwierig, sich nur für sich selbst zu verändern. Die Versuchung, sich im Spiegel der anderen zu definieren, ist gross. Und manchmal ist es einfacher, Erwartungen zu bedienen, als sich selbst zu begegnen.
Veränderung ist Beziehung – auch zur Welt
Vielleicht ist die wahre Antwort deshalb nicht entweder-oder, sondern sowohl-als-auch. Wir verändern uns für uns selbst – und für die Welt. Für die, die wir lieben. Für die, die wir einmal waren. Für die, die wir vielleicht noch werden können. Veränderung ist nie rein individuell. Sie ist immer auch ein soziales, ein politisches, ein spirituelles Ereignis.
Wir verändern uns, weil wir leben. Und leben heisst: verbunden sein. In Spannung. In Berührung. In Verantwortung.
Das Ich im Wir
Wenn wir ehrlich sind, ist das Ich ohne das Wir nicht denkbar. Und Veränderung ist der Ausdruck dieser lebendigen Beziehung. Ein Tanz zwischen Freiheit und Verbundenheit. Zwischen Selbstbehauptung und Hingabe.
Vielleicht ist es deshalb kein Widerspruch, sondern eine Wahrheit in zwei Richtungen: Ja, wir verändern uns für uns selbst. Aber niemals nur für uns selbst.
Denn jedes Ich, das sich wandelt, berührt ein Du. Und jedes Du, das uns begegnet, verändert unser Ich.