Kreativität ist kein Talent, sondern eine Fähigkeit: Ein Plädoyer für das Üben des Unvorstellbaren
Kreativität ist kein Talent – sie ist ein Werkzeug. Und jeder kann lernen, es zu nutzen. Vergessen Sie das Märchen vom «kreativen Genie». Kreativität ist keine angeborene Gabe, sondern eine trainierbare Fähigkeit – genauso wie Lesen, Rechnen oder Schreiben. Ob im Beruf, in der Bildung oder im Alltag: Kreatives Denken entscheidet, wer morgen Probleme löst und wer sie nur verwaltet. Ein Plädoyer für mehr Mut, mehr Spielraum und mehr unperfekte Ideen.
Kreativität ist kein Talent – sie ist ein Werkzeug. Und jeder kann lernen, es zu nutzen. Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Kreativität wird oft wie ein Zaubertrick behandelt: Man hat sie – oder eben nicht. Manche gelten als «kreative Köpfe», andere als «reine Analytiker». Die einen erfinden neue Ideen wie aus dem Nichts, die anderen reproduzieren Bestehendes. Ein grosses Missverständnis. Diese Vorstellung ist nicht nur falsch, sie ist auch gefährlich.
Sie lähmt. Sie grenzt aus. Sie verkennt, dass Kreativität kein angeborenes Talent ist – sondern eine erlernbare, entwickelbare Fähigkeit. Wie Lesen, Rechnen oder Musizieren kann auch Kreativität trainiert werden. Sie ist kein mythischer Geistesblitz, sondern ein Muskel: Wer ihn nicht nutzt, verliert ihn. Wer ihn regelmässig beansprucht, stärkt ihn.
Die Bedingungen des Neuen
Kreativität heisst nicht, aus dem Nichts zu schöpfen. Kreativität heisst, Bestehendes neu zu kombinieren. Ungewohnte Perspektiven einzunehmen. Zusammenhänge zu sehen, wo andere nur Bruchstücke erkennen. Das verlangt keine Genialität – sondern Neugier, Mut und Übung.
Kinder sind von Natur aus kreativ, weil sie sich noch nicht an die Regeln der Wirklichkeit gewöhnt haben. Sie spielen mit Möglichkeiten. Sie fragen nicht: «Darf ich das?» – sondern: «Was passiert, wenn ich das tue?» Erwachsene verlernen diese Haltung oft. Nicht, weil wir dümmer werden, sondern weil wir gelernt haben, was «geht» und was «nicht geht». Doch genau in dieser erlernten Begrenzung liegt das Problem: Kreativität wird verlernt, nicht verloren.
Kreativität ist ein Handwerk
Kreative Prozesse lassen sich planen, gestalten und verbessern. Es gibt Techniken des kreativen Denkens: Brainstorming, Perspektivwechsel, Einschränkung als Reiz, Analogiebildung, Zufallsmethoden. Genauso wie ein Sportler seine Bewegungen trainiert oder ein Musiker Tonleitern übt, können auch wir unsere Kreativität trainieren.
Ideenfindung ist ein Prozess – oft mühsam, oft chaotisch, manchmal schmerzhaft, aber strukturierbar. Kreative denken nicht «besser», sie denken anders. Sie stellen Fragen, wo andere Antworten suchen. Sie widersprechen. Sie entziehen sich der Norm – nicht aus Trotz, sondern aus Gewohnheit.
Und sie scheitern. Oft. Kreativität ist die Bereitschaft, falsch zu liegen, um irgendwann richtigzuliegen.
Die Angst vor der Leere
Viele Menschen halten sich für unkreativ, weil sie Angst vor dem leeren Blatt haben. Doch das leere Blatt ist nicht das Problem. Es ist die Erwartung, gleich beim ersten Versuch etwas Grosses zu schaffen. Kreative arbeiten mit Skizzen, Fragmenten, Fehlversuchen, Prototypen, Trial-and-Error, Wiederholungen, Verbesserungen, Iterationen, better done than perfect und Annäherungen. Sie denken nicht in Lösungen, sondern in Möglichkeiten.
Wer kreativ sein will, muss sich erlauben, unperfekt zu sein. Skurril. Albern. Langweilig. Denn im Ausschuss liegt oft der Schatz. Kreativität braucht Fehlerfreundlichkeit. Verspieltheit. Geduld. Und ein Umfeld, das nicht nur Leistung, sondern auch das «Noch-nicht» schätzt.
Warum das alles wichtig ist
Kreativität ist eine Schlüsselkompetenz. Nicht bloss in der Kunst, in allen Bereichen. Ob in Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Gesellschaft: Probleme von morgen lösen sich nicht mit den Lösungen von gestern. Wir sind auf Menschen angewiesen, die querdenken, umdenken, neu denken, vordenken, mitdenken. Und wir brauchen eine Gesellschaft, die das fördert – nicht bestraft.
Kreativität ist kein Zufall. Sie ist eine Haltung. Eine Praxis. Eine Fähigkeit. Und sie beginnt mit dem Satz: «Ich könnte es auch anders machen.»
Jeder Mensch ist kreativ – wenn man ihn lässt
Kreativität ist kein Talent, das wenigen Auserwählten vorbehalten ist. Sie ist ein Potenzial, das in allen Menschen schlummert. Sie lässt sich fördern, fordern, freilegen. Sie beginnt mit Mut, wächst mit Übung und blüht in Freiheit.
Wer meint, nicht kreativ zu sein, wurde vielleicht einfach nie dazu ermutigt, es zu üben.
Doch es ist nie zu spät. Das Neue beginnt genau jetzt.