Die Angst vor dem Chefsein überwinden
Die Scheu vor Führungspositionen ist mehr als nur ein individuelles Problem – sie hemmt Karrieren und kostet Unternehmen wertvolles Potenzial. Unbewusster Perfektionismus, negative Erfahrungen und tief verankerte Glaubenssätze sind häufige Ursachen für diese Blockade. Doch durch gezielte Strategien, wie Selbstreflexion, Mentoring und emotionale Intelligenz, lässt sich diese Angst überwinden. Wer den Mut entwickelt, Verantwortung schrittweise zu übernehmen, stärkt nicht nur sich selbst, sondern trägt auch dazu bei, eine unterstützende Führungskultur in Organisationen zu etablieren.
Daniel Frei – Die Angst vor der Übernahme von Führungsrollen ist ein ernst zu nehmendes Thema, das nicht nur Karrieren hemmt, sondern auch das Potenzial von Teams und Organisationen begrenzt. Menschen, die aufgrund ihrer Führungsangst zögern, Verantwortung zu übernehmen, verlieren wertvolle Entwicklungsmöglichkeiten, während Organisationen auf das Talent und die Kreativität potenzieller Führungskräfte verzichten. Wie also lässt sich diese Angst überwinden? Welche Strategien helfen, um Selbstzweifel und Unsicherheiten zu überwinden?
Verstehen, woher die Angst kommt
Der erste Schritt zur Überwindung von Führungsangst ist das Verständnis ihrer Ursachen. Ein genaues Verständnis hilft, die Angst zu entmystifizieren und eine gezielte Strategie zur Überwindung zu entwickeln. Häufig steckt hinter der Angst vor Führungsverantwortung ein unbewusster Perfektionismus, negative Erfahrungen in der Vergangenheit oder tief verankerte Glaubenssätze wie: «Ich bin nicht gut genug».
Menschen beispielsweise, die als Kinder unter stark kontrollierenden Eltern litten, haben oft Angst, selbst als Führungskraft als «Tyrann» wahrgenommen zu werden. Diese unbewussten Überzeugungen müssen erst erkannt werden, bevor eine Veränderung möglich ist. Der Führungsexperte Manfred Kets de Vries (2006) beschreibt dies als den Prozess der Selbstreflexion, bei dem man sich intensiv mit der eigenen Beziehung zu Macht und Autorität auseinandersetzt. Durch die Bearbeitung dieser inneren Konflikte können negative Verknüpfungen schrittweise aufgelöst werden (siehe auch Angst vor dem Chefsein: Wenn Führung Bürde ist).
Positive Führungsbilder entwickeln
Menschen mit Führungsangst haben oft ein negatives Bild von Führung. Sie wird mit Härte, Kontrolle und Machtausübung assoziiert. Ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Angst besteht daher darin, ein neues, positives Bild von Führung zu entwickeln. Führung kann viel mehr als Dienst an anderen, als Möglichkeit zur Unterstützung und als Prozess des gemeinsamen Wachstums verstanden werden.
Führungskräfte beispielsweise, die in Unternehmen wie Google oder Pixar tätig sind, definieren Führung als «psychologische Sicherheit»: Der Zweck einer Führungskraft ist es, ein Umfeld zu schaffen, in dem Mitarbeitende sich sicher fühlen, Risiken einzugehen und ihre Meinungen zu äussern (Edmondson, 1999). Wenn Sie daher Führung als Möglichkeit zur Förderung anderer anstatt als Kontrolle dieser verstehen, wird die Rolle attraktiver und weniger bedrohlich.
Konfrontation durch schrittweises Training
Eine der effektivsten Methoden zur Überwindung von Führungsangst ist das Prinzip der graduellen Exposition, das in der kognitiven Verhaltenstherapie eingesetzt wird. Menschen mit Führungsangst sollen nicht sofort in grosse Führungsrollen gestossen werden, sondern schrittweise an verantwortungsvollere Aufgaben herangeführt werden, wie etwa kleinere Projekte leiten oder in Meetings Verantwortung für Teilbereiche übernehmen.
Bandura (1997) nennt diesen Prozess Selbstwirksamkeitstraining. Menschen entwickeln ein Gefühl der Kompetenz, wenn sie erleben, dass sie in kleineren Aufgaben erfolgreich sind. Diese kleinen Erfolge bauen die psychologische Grundlage für die Übernahme grösserer Herausforderungen. So kann der Einsatz von Führungs-Simulationen und Rollenspielen es ermöglichen, in einem geschützten Rahmen verschiedene Führungssituationen zu üben und aus Fehlern zu lernen.
Arbeit mit dem inneren Kritiker: Selbstzweifel entkräften
Ein häufiger Begleiter von Führungsangst ist der sogenannte «innere Kritiker» – eine innere Stimme, die die eigenen Fähigkeiten infrage stellt und ständig Kritik übt. «Du wirst das nie schaffen!», «Du bist nicht gut genug!» – Solche und viele weitere negative innere Monologe blockieren das Selbstvertrauen und verhindern, dass Menschen überhaupt den ersten Schritt in eine Führungsrolle wagen.
Ein Ansatz, um den inneren Kritiker zu überwinden, ist möglicherweise die Technik des Reframings, in welcher negative Gedanken bewusst hinterfragt und umformuliert werden. Statt also sich zu fragen, «Was, wenn ich scheitere?», kann man sich fragen: «Was lerne ich daraus, wenn etwas nicht so läuft, wie geplant?». Studien zeigen, dass Menschen, die ihren inneren Kritiker aktiv hinterfragen und positive Selbstgespräche führen, signifikant weniger Stress erleben und resilienter sind (Schwarzer & Jerusalem, 1995).
Mentoring und Coaching: Unterstützung von aussen
Niemand soll sich der Angst vor Führung allein stellen. MentorinnEn und Coaches bieten wertvolle Unterstützung, um Führungsängste zu überwinden. Während MentorinnEn als Rollenvorbilder dienen, kann ein Coach gezielt dabei helfen, innere Blockaden zu lösen und das Selbstbild zu stärken. Besonders hilfreich ist es, wenn die MentorinnEn selbst Führungsangst erfahren haben und berichten können, wie sie diese überwunden haben.
Der Führungsexperte Richard Kram (1985) beschreibt Mentoring als eine Form der «sozialen Spiegelung», bei der der Mentee lernt, sich durch die Augen der Mentorin, des Mentors selbst positiv zu sehen. Diese Person kann helfen, realistischere Erwartungen an die Führungsrolle zu entwickeln und das Selbstbild zu korrigieren. In Organisationen ist Mentoring ein bewährtes Mittel, um insbesondere Frauen und unterrepräsentierte Gruppen auf Führungspositionen vorzubereiten und stereotype Rollenkonflikte zu entschärfen.
Die Bedeutung emotionaler Intelligenz
Emotionale Intelligenz (EI) – die Fähigkeit, eigene Emotionen zu erkennen, zu verstehen und zu regulieren – spielt eine Schlüsselrolle bei der Überwindung von Führungsangst. Menschen mit hoher emotionaler Intelligenz sind in der Lage, ihre Angst zu erkennen und konstruktiv damit umzugehen. Sie können Stresssituationen als Wachstumschance betrachten, anstatt sie als Bedrohung wahrzunehmen (Goleman, 1995).
Eine bewährte Methode zur Förderung emotionaler Intelligenz ist das Achtsamkeitstraining. Studien zeigen, dass Achtsamkeit die emotionale Regulation verbessert und die Aktivität im Angstzentrum des Gehirns (der Amygdala) reduziert (Davidson & Irwin, 1999). Führungskräfte, die regelmässig Achtsamkeitsübungen wie Meditation oder Atemtechniken praktizieren, sind weniger stressanfällig und agieren ruhiger und besonnener in Entscheidungssituationen.
Veränderung der Organisationskultur: Fehlerkultur und psychologische Sicherheit
Leider ist die Angst vor Führung oft nicht nur ein individuelles Problem, sondern Symptom einer toxischen Organisationskultur. Wenn Unternehmen Führung als eine Position der absoluten Kontrolle und der Fehlerlosigkeit definieren, verstärken sie die Angst vor Fehlern und sozialer Bewertung. Eine «Null-Fehler-Kultur» führt dazu, dass Führungskräfte lieber nichts tun, als möglicherweise eine falsche Entscheidung zu treffen.
Amy Edmondson (1999) zeigt, dass psychologische Sicherheit – das Gefühl, dass es in Ordnung ist, Risiken einzugehen und Fehler zu machen – ein Schlüsselfaktor ist, um Führungsangst abzubauen. Organisationen sollten daher eine Kultur etablieren, in der Fehler als Lernchancen betrachtet werden und Führungskräfte sich selbst als Lernende verstehen. Offene Feedbackprozesse, die Möglichkeit, konstruktiv Kritik zu üben, und ein Fokus auf persönliche Weiterentwicklung sind hier zentrale Elemente.
Selbstführung: Der Schlüssel zur Führung anderer
Ein oft übersehener Aspekt bei der Überwindung von Führungsangst ist die Selbstführung. Selbstführung beschreibt die Fähigkeit, sich selbst zu motivieren, klare Ziele zu setzen und eigene Emotionen zu regulieren (Manz, 1986). Wer in der Lage ist, sich selbst zu führen, wird sich auch in der Rolle als Führungskraft wohler fühlen. Eine konkrete Technik zur Verbesserung der Selbstführung ist das Zielmanagement: Anstatt sich von der Angst vor grossen Führungsaufgaben überwältigen zu lassen, brechen erfolgreiche Führungskräfte ihre Aufgaben in kleinere, erreichbare Ziele auf.
Zusätzlich hilft das Führen eines Reflexionstagebuchs, in dem tägliche Herausforderungen und Erfolge schriftlich festgehalten werden, dabei, das eigene Wachstum zu dokumentieren und die Selbstwirksamkeit zu stärken.
Mut zur Übernahme von Führung entwickeln
Die Angst vor dem Chefsein kann überwunden werden – Schritt für Schritt und durch gezielte Strategien. Menschen, die unter Führungsangst leiden, benötigen hauptsächlich Geduld und die Bereitschaft, sich ihren Ängsten zu stellen. Die Entwicklung einer positiven Einstellung zur Führung, die schrittweise Übernahme von Verantwortung, Mentoring und ein unterstützendes Arbeitsumfeld sind entscheidende Faktoren, um diese Herausforderung zu meistern.
Letztlich geht es darum, eine neue Perspektive auf Führung zu entwickeln: Führung ist kein Privileg, sondern eine Möglichkeit, anderen zu dienen, zu fördern und zu inspirieren. «Führung ist nicht, sich vor den anderen zu stellen, sondern sie auf ihrem Weg zu unterstützen» – diese Worte des Managementexperten Peter Drucker fassen die Essenz von moderner Führung zusammen.
Wer diesen Gedanken verinnerlicht, wird feststellen, dass die Angst vor Führung nicht nur überwunden, sondern in echtes Führungspotenzial verwandelt werden kann.