Verändern uns nur Schicksalsschläge wirklich?

Die Frage, ob es nur Schicksalsschläge sind, die uns wirklich verändern, beschäftigt Philosophinn:en, Psychologinn:en und Mediziner:innen gleichermassen. Während traumatische Ereignisse wie der Verlust eines geliebten Menschen oder schwere Krankheiten oft als Katalysatoren für tiefgreifende Veränderungen in unserem Leben wirken, zeigen Studien und philosophische Überlegungen, dass auch positive Erlebnisse wie Erfolge, das Erreichen langersehnter Ziele oder das Erleben tiefer Liebe transformative Kräfte entfalten können. Es sind nicht nur die schmerzhaften, sondern auch die freudigen Momente, die uns nachhaltig prägen und unsere Sicht auf das Leben grundlegend verändern.

Es sind nicht nur die schmerzhaften, sondern auch die freudigen Momente, die uns nachhaltig prägen und unsere Sicht auf das Leben grundlegend verändern. Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Die Frage, ob nur Schicksalsschläge uns wirklich verändern, ist sowohl philosophisch als auch psychologisch und medizinisch von Interesse. Schicksalsschläge wie der Verlust eines geliebten Menschen, schwere Krankheiten und andere traumatische Ereignisse können tiefgreifende Auswirkungen auf unser Leben und unser Selbstverständnis haben. Doch sind es wirklich nur diese negativen Erfahrungen, die uns formen, oder gibt es auch andere Faktoren?

Was bedeutet «wirklich»?

Im Ausdruck «uns wirklich verändern» meint «wirklich» die Echtheit, Tiefe und Ernsthaftigkeit der Veränderung. Es signalisiert, dass die Veränderung nicht oberflächlich oder vorübergehend, sondern tiefgehend, «authentisch» ist. Das bedeutet, dass die Veränderung nachhaltig, bedeutungsvoll und von grundlegender Natur ist, anstatt nur eine kurzfristige oder kosmetische Anpassung zu sein.

In diesem Kontext könnte «uns wirklich verändern» darauf hinweisen, dass eine Person eine Transformation durchmacht oder durchgemacht hat, die ihre grundlegenden Einstellungen, Verhaltensweisen oder Überzeugungen betrifft. Es geht also darum, dass diese Veränderung von innen heraus kommt und nicht nur äussere Veränderungen oder Anpassungen betrifft.

Die transformative Kraft von Leid und Krise

Philosophisch gesehen haben nicht nur Denker wie Friedrich Nietzsche und Søren Kierkegaard die transformative Kraft von Leid und Krise betont. Nietzsche etwa prägte den Begriff «Amor fati» – die Liebe zum Schicksal – und argumentierte, dass der Mensch durch das Akzeptieren und Überwinden von Schicksalsschlägen sein wahres Potenzial entfalten könne. Kierkegaard seinerseits sah in existenziellen Krisen die Möglichkeit, zu einem authentischeren Selbst zu finden. Hier zeigt sich die Auffassung, dass extreme Erfahrungen notwendig sind, um tiefergehende Veränderungen im Individuum zu bewirken.

Nach schweren Schicksalsschlägen sind Menschen oft resilienter …

In der Psychologie gibt es zahlreiche Studien, die insbesondere die Auswirkungen von Traumata auf die Persönlichkeitsentwicklung untersuchen. Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist ein bekanntes Phänomen, bei dem traumatische Erlebnisse zu langfristigen psychischen Veränderungen führen. Studien haben gezeigt, dass Menschen nach schweren Schicksalsschlägen oft resilienter werden und eine erhöhte psychische Widerstandskraft entwickeln können. Der Psychologe Richard Tedeschi prägte den Begriff des «Posttraumatischen Wachstums», welcher beschreibt, wie Menschen nach traumatischen Ereignissen positive Veränderungen in ihrer Lebensperspektive und ihren persönlichen Beziehungen erfahren können.

Ein prominentes Beispiel für posttraumatisches Wachstum ist Viktor Frankl, ein Überlebender des Holocausts, der in in seinem Werk «Trotzdem Ja zum Leben sagen» darlegt, wie extreme Leidenssituationen zu einer tieferen Sinnfindung führen können. Studien zu Überlebenden von Naturkatastrophen oder Kriegserfahrungen zeigen ähnliche Muster. Trotz der negativen Erfahrungen berichten viele von einem neuen Lebenssinn und einer stärkeren persönlichen Resilienz.

… und können oft Stress besser bewältigen

Auch aus medizinischer Sicht sind die Auswirkungen von Schicksalsschlägen auf die menschliche Gesundheit gut dokumentiert. Chronischer Stress, der oft mit schweren Lebensereignissen einhergeht, kann zu einer Vielzahl von gesundheitlichen Problemen führen, darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen und ein geschwächtes Immunsystem. Eine Studie des Harvard Medical School hat gezeigt, dass Menschen, die in ihrem Leben schwere Traumata erlitten haben, ein höheres Risiko für verschiedene gesundheitliche Probleme aufweisen. Gleichzeitig gibt es aber auch Hinweise darauf, dass das Überwinden solcher Ereignisse zu einer verbesserten Stressbewältigungsfähigkeit führen kann.

Ja, Schicksalsschläge können eine tiefgreifende transformative Kraft haben, aber …

Schicksalsschläge wirken oft wie ein Katalysator, der unser Innerstes erschüttert und uns zwingt, unsere Werte, Überzeugungen und Prioritäten neu zu überdenken. In der Philosophie wird diese transformative Kraft von Schicksalsschlägen durch das Konzept der «Existenzkrise» verdeutlicht, das beispielsweise Jean-Paul Sartre in seinem Existenzialismus beschreibt. Sartre argumentiert, dass der Mensch in Momenten tiefster Verzweiflung gezwungen wird, seine eigene Freiheit und Verantwortung zu erkennen, was zu einer fundamentalen Veränderung des Selbst führen kann.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Schicksalsschläge tatsächlich eine tiefgreifende transformative Kraft haben können, die sowohl unser inneres als auch unser äusseres Leben nachhaltig verändert. Diese Transformationskraft ist aber nicht ausschliesslich auf negative Ereignisse beschränkt. Auch positive Erfahrungen können eine mächtige, wenn auch oft weniger dramatisch wahrgenommene, Kraft zur Veränderung sein. Bedeutende Erfolge, wie das Erreichen langersehnter Ziele, können das Selbstbewusstsein stärken und ein tiefes Gefühl von Erfüllung und Sinn stiften. Solche Erfahrungen können uns dazu inspirieren, neue Herausforderungen anzunehmen und uns über unsere bisherigen Grenzen hinaus zu entwickeln.

Das Erleben tiefer Liebe, sei es in einer romantischen Beziehung, in der Familie oder in Freundschaften, kann ebenfalls eine fundamentale Veränderung bewirken. Liebe hat die Kraft, uns zu öffnen, unsere Empathie zu vertiefen und uns mit einer neuen Perspektive auf das Leben und die Welt zu beschenken; etwas, das wir hoffentlich alle schon erleben durften. Durch die Verbindung mit anderen Menschen können wir nicht nur unsere eigenen Stärken und Schwächen besser verstehen, sondern auch eine tiefere Einsicht in das, was wirklich zählt, gewinnen.

Sogar der Weg zur Selbstverwirklichung an und für sich– sei es durch kreative Tätigkeiten, berufliche Erfolge oder das Streben nach persönlichem Wachstum – kann transformative Auswirkungen haben. Diese positiven Erfahrungen formen unser Selbstbild, stärken unsere Resilienz und führen uns zu einem tieferen Verständnis unserer Fähigkeiten und Wünsche.

Letztlich tragen sowohl die Höhen als auch die Tiefen des Lebens zur kontinuierlichen Entwicklung und Veränderung unseres Selbst bei. Es ist die Summe dieser Erfahrungen – die schmerzhaften wie auch die freudigen –, die uns zu den Menschen macht, die wir sind. Positive Erfahrungen verleihen uns oft die Kraft und den Mut, durch schwierige Zeiten zu navigieren, während sie uns gleichzeitig die Schönheit und den Wert des Lebens vor Augen führen.