Was, wenn Social Media uns gar nicht ruiniert hat, sondern offenlegt, wie wir tatsächlich sind?!
Von der Zunahme narzisstischer Tendenzen über digitale Sucht bis hin zur Abnahme sozialer Kompetenz: Die Diagnose scheint eindeutig – Social Media machen uns zu schlechteren Menschen. Doch was, wenn diese Analyse falsch ist? Was, wenn Plattformen wie TikTok, Instagram und Facebook uns nicht verändern, sondern lediglich unser wahres Wesen enthüllen? Sind sie wirklich die Ursache für Oberflächlichkeit und soziale Fragmentierung, oder zeigen sie uns nur, wie wir schon immer waren? Ein Blick auf die tiefere Frage, ob Social Media als Spiegel, Verstärker oder gar als Entlarver unserer menschlichen Natur fungieren.
Daniel Frei – Geht es um Social Medias wie TikTok, Instagram, X, Snap, Facebook und wer weiss der Gugger noch was, diskutieren wir immer wieder über deren Einfluss auf unsere Gesellschaft, unser Verhalten und unsere Identität. Von der Zunahme narzisstischer Tendenzen, der Fragmentierung der Öffentlichkeit, hin zu digitaler Sucht und einer vermeintlichen Abnahme sozialer Kompetenz – die Diagnose scheint klar: Social Media machen uns zu schlechteren Menschen. Doch was, wenn diese Analyse falsch ist? Was, wenn nicht die sozialen Medien uns «ruiniert» haben, sondern lediglich unser wahres Wesen offenlegen?
Offenlegung des Selbst
Philosophisch betrachtet sind soziale Medien ein Spiegel, der uns in eine radikale Form der Selbstbeobachtung zwingt. Der französische Philosoph Jean Baudrillard schrieb in Simulacra and Simulation: «Wir leben in einer Welt, in der es mehr und mehr Informationen gibt und weniger und weniger Sinn.» Dieser Satz könnte auch als Grundsatz für die gegenwärtige Social-Media-Ära gelten, in der wir nicht nur die Realität abbilden, sondern ununterbrochen neue Realitäten schaffen und diese in Echtzeit verbreiten.
Hier stellt sich mir die Frage: Ruiniert uns diese Technologie oder zeigt sie letztlich auf, wer wir wirklich sind? Laut Baudrillard sind nicht die sozialen Medien die Ursache für unsere vermeintliche Oberflächlichkeit, sondern der Raum, in dem sich diese entwickelt. Wenn wir annehmen, dass wir Menschen schon immer den Drang nach Selbstdarstellung hatten, dass Narzissmus und Exhibitionismus latent in uns angelegt sind, dann sind soziale Medien lediglich ein Medium, das es ermöglicht, diese Neigungen sichtbar zu machen. Immanuel Kant hingegen würde uns wohl dazu aufrufen, diese Freiheit zur Selbstentfaltung zu nutzen, um unser «höheres Selbst» zu kultivieren.
Wenn soziale Medien aber nur der Spiegel sind, in dem wir unser wahres Ich sehen, könnten wir dennoch fragen, ob ein solcher Spiegel nicht auch manipulativ wirkt? Die Philosophie des Existenzialismus, etwa bei Sartre, und auch Philosophien wie der Buddhismus, deuten darauf hin, dass unser Selbst nicht statisch ist, sondern sich in permanenter Wechselwirkung mit unserer Umwelt verändert. Social Media könnte demnach auch die Tendenz verstärken, sich auf Oberflächlichkeiten zu reduzieren, indem es uns dazu verleitet, nach äusserlicher Anerkennung statt nach innerer Authentizität zu streben.
Verstärker oder Entlarver?
Aus psychologischer Sicht können wir argumentieren, dass Social Media uns nicht notwendigerweise verändert, sondern primär bestehende Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensmuster verstärkt. Studien zeigen beispielsweise, dass Personen, die bereits eine hohe Ausprägung an Narzissmus und extrovertiertem Verhalten haben, tendenziell häufiger Social Media nutzen und sich dort stärker präsentieren (Buffardi & Campbell, 2008).
Der amerikanische Psychologe Philip Zimbardo erklärte zudem in einem Interview, dass das Internet «die dunkleren Seiten der menschlichen Natur» hervorhebe, da es eine Plattform bietet, auf der Menschen agieren können, ohne sich direkt den sozialen Konsequenzen ihres Verhaltens zu stellen (Zimbardo, 2014).
Doch was, wenn diese «dunkleren Seiten» schon immer da waren, nur dass sie bisher unterdrückt wurden?
Neuere psychologische Forschungen hingegen zeigen, dass die permanente digitale Interaktion zu einer Erhöhung der Stresslevel und einer Abnahme des allgemeinen Wohlbefindens führen kann (Twenge, 2017). Diese Veränderungen könnten also tatsächlich neue psychische Belastungen schaffen, die ohne Social Media nicht vorhanden wären. Wenn das stimmt, dann wirkt Social Media nicht nur als Verstärker, sondern als aktiver Verursacher von psychologischen Problemen.
Der digitale Stamm
Aus ethnologischer Perspektive lässt sich die Rolle sozialer Medien in der heutigen Gesellschaft als eine neue Form der Stammesbildung betrachten. Der Anthropologe Robin Dunbar stellte die These auf, dass unsere Gehirne evolutionär dazu ausgelegt sind, stabile Beziehungen zu einer Gruppe von maximal 150 Menschen zu pflegen – das sogenannte «Dunbar’s Number» (Dunbar, 1992). Soziale Medien sprengen diese Zahl jedoch und eröffnen uns die Möglichkeit, Tausende Mensch gleichzeitig zu beobachten, ihre Handlungen zu bewerten und mit ihnen in Kontakt zu treten.
Entspricht das also unserer Natur oder entzieht es uns die Möglichkeit, authentische Bindungen aufzubauen? Wenn wir davon ausgehen, dass sich soziale Hierarchien und Gruppendynamiken im Laufe der Evolution immer weiter verfeinert haben, dann sind soziale Medien lediglich eine Erweiterung dessen, was unsere Vorfahren auf kleinerer Ebene praktiziert haben. Social Media wäre in diesem Sinne nicht schädlich, sondern eine Anpassung an die neuen sozialen Gegebenheiten der Moderne.
Wenn soziale Medien aber nur die Rolle eines erweiterten Stammes spielen, könnten wir argumentieren, dass sie die Intimität und Qualität unserer Beziehungen zerstören. Die Hypervernetzung könnte das Gefühl für echte Gemeinschaft verwässern und an deren Stelle eine oberflächliche Form von sozialem Kapital setzen, in der Likes und Follower die neue Währung sind. Dieser Verlust echter Bindung könnte langfristig zu einem Verlust an sozialer Kohärenz führen.
Soziale Fellpflege und die Rolle der Kommunikation
Lionel Tiger, ein Anthropologe, hat die Theorie der «Sozialen Fellpflege» entwickelt, die besagt, dass soziale Interaktionen eine entscheidende Funktion bei der Pflege von Beziehungen und dem Aufbau von sozialen Bindungen haben – ähnlich wie physische Fellpflege bei Primaten. In früheren Gesellschaften fand diese Pflege durch direkten Kontakt und Gespräche statt. In der modernen, digital vernetzten Welt übernehmen Social Media nun diese Funktion, indem sie uns ermöglichen, auf einfache Weise eine Vielzahl von Beziehungen zu «pflegen». Likes, Kommentare und geteilte Inhalte übernehmen die Rolle der sozialen Zuwendungen und verstärken das Gefühl von sozialem Zusammenhalt. Betrachten wir diese These, so sind Social Media nicht die Ursache eines Problems, sondern die Antwort auf ein menschliches Grundbedürfnis: Sie ermöglichen eine neue, digitalisierte Form der sozialen Interaktion, die, wie alle sozialen Werkzeuge, sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf unser Verhalten haben kann. Der wahre Unterschied liegt also nicht im Medium, sondern in der Art, wie wir es nutzen.
Spiegel einer fragmentierten Gesellschaft
Oder sind Social Media das Produkt einer ohnehin schon fragmentierten und individualistischen Gesellschaft? Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann beschreibt Kommunikation als den zentralen Mechanismus, durch den soziale Systeme sich selbst aufrechterhalten und entwickeln (Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997). In dieser Logik sind soziale Medien nicht der Ursprung der sozialen Fragmentierung, sondern lediglich ein Symptom einer Gesellschaft, die sich immer stärker in Subkulturen, Meinungsblasen und ideologische Lager aufteilt.
Social Media zeigt uns also nur das, was wir ohnehin sind: eine pluralistische, gespaltene Gesellschaft, in der verschiedene Gruppen ihre eigene Realität konstruieren. Facebook, Twitter und Instagram bieten diesen Gruppen lediglich die Werkzeuge, um ihre Ansichten und Identitäten öffentlich darzustellen.
Die amerikanische Soziologin Sherry Turkle hält in ihrem Buch Alone Together (2011) mit ihrer These dagegen, dass die digitale Welt die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, grundlegend verändert hat. Menschen entwickeln eine «flüchtige Intimität», die es ihnen erlaubt, emotionale Nähe zu simulieren, ohne tatsächlich engagiert zu sein. Diese Tendenz könnte wahrlich die Sozialstruktur der Gesellschaft verändern und zu einem Verlust an Empathie und sozialer Verantwortung führen.
Gut oder Böse – Die Natur des Menschen im digitalen Spiegel
Die Diskussion über den Einfluss von Social Media auf die menschliche Natur wirft auch die tiefere und grundsätzliche philosophische Frage auf, ob der Mensch von Natur aus «gut» oder «böse» ist. Thomas Hobbes sah den Menschen als egoistisches Wesen, das in einem «Krieg aller gegen alle» lebt (wenn es nicht durch äussere Normen und Strukturen gebändigt wird). Jean-Jacques Rousseau hingegen vertrat die Auffassung, dass der Mensch im Naturzustand gut und durch die Gesellschaft erst verdorben wird. Wenn Social Media unser «wahres Selbst» offenlegen, stellt sich also die Frage: Zeigen sie uns unsere inhärente Dunkelheit oder nur das, was die äusseren Umstände aus uns machen?
Diese Frage bleibt auch heute relevant, da soziale Medien gleichzeitig positive Ausdrucksformen von Solidarität und Kooperation, aber auch Tendenzen zu Mobbing und Manipulation verstärken. Die Antwort könnte in einer Synthese liegen: Social Media offenbaren nicht, ob der Mensch gut oder böse ist, sondern wie leicht er durch sein Umfeld geprägt werden kann.
Soziale Medien: Spiegel, Verstärker, Entlarver und Verursacher zugleich
Es zeigt sich, dass soziale Medien weder nur als Spiegel noch lediglich als Verstärker unserer menschlichen Natur betrachtet werden können. Sie sind vielmehr ein vielschichtiges soziales Ökosystem, das bestehende Tendenzen aufdeckt, verstärkt und gleichzeitig neue soziale Dynamiken und Normen schafft. Sie fungieren als Spiegel, der uns zeigt, wer wir sind – Menschen, die nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Bedeutung streben, und zugleich als Mechanismus, der uns zur digitalen Fellpflege antreibt, indem er unsere Beziehungen über Likes und Kommentare konstant neu definiert. Doch dieser Spiegel ist nicht neutral beobachtend. Vielmehr lenkt er unseren Blick auf bestimmte Aspekte unseres Selbst, während andere unsichtbar bleiben.
Social Media offenbart damit sowohl unsere hellen als auch unsere dunklen Seiten, zeigt unsere Bereitschaft zur Solidarität und Kooperation, aber auch unsere Neigung zu narzisstischem Verhalten und digitaler Aggression. Sie sind nicht einfach ein Medium, das unsere Verhaltensweisen reflektiert, sondern können auch als aktive Verursacher von neuen psychologischen und sozialen Phänomenen verstanden werden. Während einige Theorien, wie die von Lionel Tiger, Social Media als eine Art evolutionäre Anpassung an unser Bedürfnis nach sozialer Interaktion interpretieren, bleibt die Frage nach der wahren Natur des Menschen offen: Sind wir im Kern gut und werden durch diese Technologie erst verdorben, oder zeigen uns Social Media nur, was schon immer in uns war?
Ein Fazit könnte also lauten: Social Media sind weder per se gut noch schlecht – sie sind ein Machtinstrument, das sowohl Selbstoffenlegung als auch Manipulation ermöglicht und das Wesen des Menschen auf unterschiedlichste Weise offenbart und formt. Der Satz «Social Media hat uns nicht ruiniert, sondern zeigt nur, wie wir wirklich sind» trifft also insofern zu, als er uns die Komplexität unserer Natur vor Augen führt.
Die sozialen Medien tun dies, indem sie unser Verhalten und unsere Wahrnehmung von uns selbst neu modellieren, unsere Erwartungen verändern und uns in ständige Rückkopplungsschleifen der Selbstbeobachtung zwingen. Dabei entfalten sie sich als Verstärker, Entlarver und Gestalter zugleich – und machen uns damit zu dem, was wir sind, aber vielleicht noch nie so klar gesehen haben.