Familienstrukturen und Rollenverschiebungen: Die Herausforderung dysfunktionaler Dynamiken bei CPTSD

Familien gelten oft als der erste und wichtigste Ort der Geborgenheit und Unterstützung. Doch was passiert, wenn genau dieses Fundament bröckelt? Für Menschen mit komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (CPTSD) können dysfunktionale Familiendynamiken statt Sicherheit eine Quelle von Schmerz und Belastung sein. Insbesondere verschobene Rollen, unausgesprochene Erwartungen und der Umgang mit weitergegebenen Traumata prägen das Leben der Betroffenen tief. Was passiert, wenn Kinder zu Eltern werden, wenn sie die Verantwortung für das emotionale Gleichgewicht der Familie übernehmen müssen? Und wie beeinflusst narzisstisches Verhalten der Eltern diese Dynamiken?

Familien gelten oft als der erste und wichtigste Ort der Geborgenheit und Unterstützung. Doch was passiert, wenn genau dieses Fundament bröckelt? Illustration: @yuda.aiii

Daniel Frei – Familien können ein zentraler Bestandteil der Unterstützung für Menschen mit CPTSD sein, sind aber oft genug eher Quelle der oder von Belastung – besonders wenn Rollen innerhalb der Familie dysfunktional oder verschoben sind. Kinder, die zu Eltern werden müssen, unausgesprochene Erwartungen oder der Umgang mit vergangenen Traumata innerhalb der Familie können den Heilungsprozess beeinflussen.

Wenn Kinder zu Eltern werden: Die Last der Verantwortung

In dysfunktionalen Familiensystemen übernehmen Kinder oft Rollen, die eigentlich den Erwachsenen vorbehalten sind – eine Dynamik, die als «Parenting your parents» bekannt ist. Sie übernehmen Verantwortung für das emotionale Wohlbefinden oder sogar die physische Versorgung ihrer Eltern.

Diese Rollenverschiebung hinterlässt Spuren. Kinder, die zu früh erwachsen werden müssen, verlieren die Möglichkeit, ihre eigene Identität frei zu entwickeln. Sie lernen, ihre eigenen Bedürfnisse zu ignorieren, und tragen diese Muster oft ins Erwachsenenleben.

Eine Betroffene beschreibt: «Ich wusste immer, dass ich stark sein musste, weil meine Mutter es nicht konnte. Aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr wusste, wer ich wirklich bin.» Diese Erkenntnis ist ein wichtiger Schritt, um aus der belastenden Dynamik auszubrechen.

Die beschriebenen Rollenverschiebungen sind oft Teil grösserer dysfunktionaler Muster, die sich in verschiedenen Familienmodellen manifestieren können

Dysfunktionale Familienstrukturen

Dysfunktionale Familienstrukturen lassen sich anhand von Modellen und Typologien klassifizieren, die bestimmte Muster von Dynamiken, Rollen und Verhaltensweisen beschreiben:

1. Die Bilderbuch-Familie (Schein-Familie)

Nach aussen hin erscheint alles perfekt – gute Jobs, glückliche Kinder, ein schönes Zuhause. Intern gibt es jedoch emotionale Distanz, Konflikte werden unterdrückt, und die Bedürfnisse der Mitglieder werden ignoriert.

  • Merkmale: Perfektionismus, Imagepflege, keine authentische Kommunikation.

2. Die chaotische Familie

Es fehlt an Struktur, Regeln und klaren Rollen. Entscheidungen werden impulsiv getroffen, und die Eltern sind oft überfordert oder abwesend.

  • Merkmale: Instabilität, unvorhersehbare Stimmungsschwankungen, Kinder übernehmen oft früh Verantwortung.

3. Die autoritäre Familie

Strenge Regeln und Kontrolle dominieren das Familienleben. Emotionen, insbesondere negative, werden nicht toleriert, und Gehorsam wird über alles gestellt.

  • Merkmale: Angst vor Autoritäten, unterdrückte Individualität, häufig emotionale Kälte.

4. Die konfliktreiche Familie

Ständige Konflikte und Streitereien prägen das Familienleben. Streitigkeiten werden oft lautstark ausgetragen, und es gibt keine konstruktive Konfliktlösung.

  • Merkmale: Unsicherheit, instabile Beziehungen, Kinder fühlen sich oft zwischen den Fronten.

5. Die distanzierte Familie

Es gibt wenig emotionale Nähe oder Intimität zwischen den Mitgliedern. Gefühle werden selten geteilt, und jedes Mitglied lebt sein eigenes Leben.

  • Merkmale: Isolation, emotionale Unterversorgung, Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen.

6. Die symbiotische Familie

Die Familienmitglieder sind stark voneinander abhängig, oft bis hin zur Verschmelzung. Grenzen sind nicht klar, und Individualität wird unterdrückt.

Merkmale: Verlust der Autonomie, übermässige Kontrolle, enge emotionale Verstrickungen.

7. Die suchtgeprägte Familie

Eine oder mehrere Personen sind süchtig (z. B. nach Alkohol, Drogen, Glücksspiel). Das Familienleben dreht sich um die Sucht, und andere Mitglieder übernehmen oft Co-abhängige Rollen.

  • Merkmale: Verleugnung, Co-Abhängigkeit, instabile Rollenverteilung.

8. Die Märtyrer-Familie

Ein Elternteil (oder beide) opfert sich scheinbar auf und stellt die eigenen Bedürfnisse ständig hinten an, was oft unausgesprochen Schuldgefühle bei den Kindern erzeugt.

  • Merkmale: Schuldinduktion, emotionale Manipulation, Druck, Erwartungen zu erfüllen.

9. Die Triangulierte Familie

Konflikte zwischen den Eltern werden oft auf ein Kind projiziert oder Kinder werden in die Rolle eines Verbündeten oder als Richter zur Beurteilung, wer im Recht ist, hinzugezogen, wodurch ungesunde Dreieckskonstellationen entstehen.

  • Merkmale: Loyalitätskonflikte, Überforderung des Kindes, emotionale Instabilität.

10. Die verstrickte Familie

Es gibt keine klaren Grenzen zwischen Eltern und Kindern. Die Kinder übernehmen Rollen wie die des besten Freundes oder des Therapeuten eines Elternteils.

  • Verlust der Kindheit, Rollenvertauschung, mangelnde Autonomie.

11. Die emotional vernachlässigende Familie

Emotionale Bedürfnisse der Kinder werden ignoriert oder minimiert. Eltern sind physisch präsent, aber emotional nicht verfügbar.

  • Merkmale: Geringes Selbstwertgefühl, Schwierigkeiten mit Intimität, emotionale Leere.

12. Die überprotektive Familie

Die Eltern versuchen, die Kinder vor allen Schwierigkeiten zu schützen und lassen ihnen keine Chance, eigenständig Probleme zu bewältigen.

  • Merkmale: Mangelnde Resilienz, Angst vor Unabhängigkeit, Perfektionsdruck.

Diese Modelle beschreiben keine festen Kategorien, sondern Überschneidungen sind häufig. Die Dynamiken innerhalb einer Familie können je nach Situation oder Phase auch wechseln.

Wie dysfunktionale Familienstrukturen zu CPTSD führen können: Narzissmus und emotionale Vernachlässigung

Dysfunktionale Familienstrukturen können einen entscheidenden Einfluss auf die Entstehung von CPTSD haben, insbesondere wenn narzisstische Dynamiken innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung vorherrschen. Kinder in solchen Familien sind oft einem emotionalen Vakuum ausgesetzt, da die Eltern mehr mit ihrer eigenen Selbstinszenierung oder den Bestätigungen von aussen beschäftigt sind, anstatt die Bedürfnisse ihrer Kinder wahrzunehmen.

Der Narzissmus der Eltern führt dazu, dass Kinder auf zwei Arten besonders leiden: Zum einen werden sie häufig instrumentalisiert, um die Bedürfnisse und das Ego der Eltern zu stützen – sie dienen als «verlängertes Selbst» oder Statussymbole. Zum anderen bleibt ihre eigene emotionale Entwicklung auf der Strecke, da ihre Bedürfnisse nach Sicherheit, Bestätigung und Liebe nicht erfüllt werden.

Diese Art der Vernachlässigung kann bei Kindern toxische Muster auslösen: Sie lernen, ihre eigenen Gefühle zu unterdrücken, um die Harmonie der Familie zu wahren, oder entwickeln ein übersteigertes Verantwortungsgefühl, das sie in eine pflegende Rolle drängt. Beides untergräbt langfristig die Fähigkeit, eine stabile Identität und gesunde Beziehungen aufzubauen.

In solchen Umfeldern erlebte Traumata wie ständige Kritik, Abwertung oder emotionale Manipulation führen zu einer dauerhaften Überaktivierung des Stresssystems. Kinder können in einem Zustand chronischer Alarmbereitschaft gefangen sein, was typisch für CPTSD ist. Die Auswirkungen sind oft lebenslang spürbar: Gefühle von Wertlosigkeit, anhaltende Angst vor Ablehnung und Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen oder zu kommunizieren, sind häufige Folgen.

Grenzen setzen und Verantwortung zurückgeben

Ein zentraler Schritt, um aus dysfunktionalen Rollen auszusteigen, ist das Setzen von Grenzen. Dies ist oft herausfordernd, besonders in engen familiären Beziehungen, wo Schuldgefühle oder Ängste mitschwingen oder wo Eltern dominieren. Grenzen setzen muss nicht nur bedeuten, sich komplett von der Familie zu lösen. Es geht auch darum, Verantwortung abzugeben, die nie übernommen werden sollte. Konkrete Ansätze können sein:

  • Offene Gespräche, in denen Bedürfnisse klar kommuniziert werden.

  • Das Etablieren von «Nein»-Sagen als akzeptable Antwort, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen.

  • Unterstützung durch therapeutische Begleitung, um Konflikte zu moderieren und neue Dynamiken zu entwickeln.

 

Familien als Anker: Unterstützung statt Belastung

Während dysfunktionale Familien eine Quelle von enormer Belastung sein können, bieten sie auch das Potenzial, ein stabilisierender Faktor im Heilungsprozess zu sein. Eltern, Geschwister oder andere Verwandte, die bereit sind, zuzuhören, zu lernen und zu unterstützen, können eine enorme Ressource darstellen. Gemeinsame Therapien oder Familienberatungen helfen dabei, alte Muster zu erkennen und gemeinsam Lösungen zu finden. Durch psychoedukative Ansätze lernen Familienmitglieder, was CPTSD bedeutet, wie sie auf Trigger reagieren und wie sie Retraumatisierung vermeiden können.

 

Retraumatisierung verhindern: achtsamer Umgang in der Familie

Besonders wichtig ist es, innerhalb der Familie Retraumatisierung zu vermeiden. Das bedeutet, Trigger zu erkennen und respektvoll mit den Grenzen der Betroffenen umzugehen. Hier spielen kleine Gesten eine grosse Rolle: Nachfragen, ob eine Umarmung in Ordnung ist, anstatt sie ungefragt zu geben, oder Rücksicht darauf nehmen, ob eine Diskussion zu einem schwierigen Thema wirklich notwendig ist. Solche Achtsamkeit signalisiert Respekt und schafft Vertrauen.

Trainings- und Unterstützungsprogramme für Angehörige

Viele Familien wissen nicht, wie sie Betroffene mit CPTSD unterstützen können, ohne selbst überfordert zu sein. Speziell entwickelte Programme bieten hier wertvolle Hilfestellungen. In psychoedukativen Gruppen oder Workshops lernen Angehörige, wie sie Trauma besser verstehen und darauf reagieren können. Dabei geht es nicht nur um Wissen, sondern auch um praktische Fähigkeiten wie:

  • Kommunikationsstrategien, um Konflikte zu entschärfen.

  • Den Umgang mit emotionalen Belastungen.

  • Techniken zur Selbstfürsorge, um sich selbst nicht zu verlieren. 

Veränderung ist möglich

Familienstrukturen und Rollenverschiebungen können herausfordernd sein, besonders für Menschen mit CPTSD. Doch mit Offenheit, Unterstützung und gezielten Massnahmen können alte Muster aufgebrochen und durch neue, gesunde Dynamiken ersetzt werden. Familien haben das Potenzial, Anker und Stabilität zu bieten, wenn sie bereit sind, zuzuhören, zu lernen und gemeinsam zu wachsen. Denn letztlich profitieren nicht nur die Betroffenen, sondern alle Mitglieder einer Familie von einem respektvollen, unterstützenden Umgang miteinander.

Quellen

  • van der Kolk, B. A. (2014). The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma. Penguin Books.

  • Perry, B. D., & Szalavitz, M. (2006). The Boy Who Was Raised as a Dog: And Other Stories from a Child Psychiatrist’s Notebook – What Traumatized Children Can Teach Us About Loss, Love, and Healing. Basic Books.

  • Herman, J. L. (1992). Trauma and Recovery: The Aftermath of Violence – From Domestic Abuse to Political Terror. Basic Books.

  • Schore, A. N. (2003). Affect Dysregulation and Disorders of the Self. W. W. Norton & Company.

  • Bowlby, J. (1988). A Secure Base: Parent-Child Attachment and Healthy Human Development. Routledge.