«Sowohl als auch»: das neue «entweder oder»

Die Welt ist nicht schwarz oder weiss – und doch dominiert zu oft die Frage nach klaren Entscheidungen. Dabei zeigt sich: Das Denken in Gegensätzen wird zunehmend durch die Fähigkeit ersetzt, Komplexität zu akzeptieren und Lösungen zu finden, die beides umfassen. Ein Plädoyer für ein «sowohl als auch».

Das Denken im Sinne von «sowohl als auch» erlaubt eine neue Art des Umgangs mit Herausforderungen. Künstler:innen unbekannt, Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Das Prinzip «entweder oder» ist wie ein Rettungsanker. Es reduziert Entscheidungen auf klare Gegensätze: ja oder nein, links oder rechts, Fortschritt oder Tradition, oben oder unten, schwarz oder weiss. Diese Herangehensweise vermittelt nicht nur Orientierung, sondern auch Sicherheit. Doch der Preis ist hoch.

Entscheidungen, die nur eine Seite berücksichtigen, ignorieren oft die Grauzonen – jene Bereiche, in denen unterschiedliche Perspektiven koexistieren und Synergien schaffen könnten. Das «entweder oder» wird dadurch zu einem Werkzeug der maximalen Vereinfachung, das besonders in Politik und Wirtschaft attraktiv ist. Es spart Zeit, stärkt Positionen und ermöglicht klare Botschaften. Doch was auf den ersten Blick effizient erscheint, kann langfristig Polarisierung und Stillstand fördern.

Die Stärke von «sowohl als auch»

Im Gegensatz dazu erlaubt das Denken im Sinne von «sowohl als auch» eine neue Art des Umgangs mit Herausforderungen. Es fordert nicht, dass wir uns für eine Seite entscheiden, sondern lädt dazu ein, beide Perspektiven gleichzeitig zu betrachten. Ein Beispiel hierfür ist der Umgang mit Innovation und Tradition: Warum sollte es notwendig sein, das eine gegen das andere auszuspielen? Ein Unternehmen kann sich auf bewährte Werte stützen und gleichzeitig den Mut haben, neue Wege zu gehen.

Auch in der Klimadebatte zeigt sich die Stärke dieses Ansatzes: Die Frage ist nicht mehr, ob wir Wirtschaftswachstum fördern oder den Planeten schützen, sondern wie wir beides miteinander verbinden können. Technologien wie erneuerbare Energien und Kreislaufwirtschaft beweisen, dass Lösungen existieren, die scheinbar gegensätzliche Ziele vereinen.

Warum es Mut zur Komplexität braucht

Die Akzeptanz von «sowohl als auch» erfordert jedoch einen fundamentalen Wandel in unserem Denken. Es ist nicht immer einfach, Ambivalenzen auszuhalten und Widersprüche zu integrieren. Unser Gehirn liebt klare Muster und Entscheidungen – das macht das «entweder oder» so verführerisch. Doch die Herausforderungen unserer Zeit verlangen ein Umdenken.

«Sowohl als auch» erfordert nicht nur eine höhere Toleranz für Unsicherheiten, sondern auch die Bereitschaft, länger über Lösungen nachzudenken und Kompromisse zu finden. Es ist unbequem, aber notwendig, um den komplexen Anforderungen gerecht zu werden, die unsere moderne Gesellschaft an uns stellt.

Unsere Welt ist zu komplex, um sie in Gegensätze zu zwingen. Die Kunst besteht darin, scheinbare Widersprüche als Chance zu begreifen und Wege zu finden, die beides verbinden. «Sowohl als auch» mag kein einfacher, aber ein lohnender Ansatz sein – für eine Gesellschaft, die nicht nur auf Effizienz, sondern auf Nachhaltigkeit und Zusammenhalt setzt.

Wer den Mut hat, Komplexität zu umarmen, eröffnet neue Möglichkeiten, die jenseits der Grenzen des «entweder oder» liegen.