Unsichtbare Täter und Brandstifter: Hetze, Anstiftung und die Normalisierung von Gewalt
Wir schauen auf die Täter. Wir zeigen mit Fingern, wir schreien nach Strafe. Aber die eigentliche Schuld sitzt woanders. Im Warmen. Im Bequemen. Im Grinsen hinter der Tastatur. Im Applaus im Halbdunkel. Im Wegschauen und Wegrationalisieren. Es sind nicht die Hände, die zuschlagen, die den Lauf der Dinge bestimmen; es sind die, die zündeln.
Daniel Frei – Immer dasselbe Ritual. Ein Anschlag, ein Messer, ein Stein, ein brennendes Auto. Die Kameras richten sich auf das Gesicht der Tatverdächtigen. Name, Vorgeschichte, Motive. Alles dreht sich um die Spitze des Speers. Und nur darum.
Und der Speer hat einen Schaft. Lang, breit, stabil. Und dieser Schaft wird gebaut von vielen Händen. Von Kommentaren, die hämisch klingen. Von Parolen, die sich gewaschen haben. Von Publikationen, die Öl ins Feuer giessen und dann unschuldig die Hände heben.
Und dann die Lüge vom Einzelfall. Er ist bequem. Er entlastet die Mehrheit. Aber er ist eine Illusion. Gewalt ist nie allein. Sie wächst im Schatten der Worte, die sie vorbereiten, ihr den Weg ebnen.
Die Sprache der Flammen
Gewalt beginnt nicht mit der Faust. Sie beginnt mit dem Wort. Mit dem Satz, der so harmlos daherkommt, dass man lacht. Mit dem Meme, das entwaffnend wirkt und Gift enthält. Mit dem berühmten «Man wird das ja wohl noch sagen dürfen».
Sprache öffnet Räume, verschiebt Grenzen, verwandelt Ausnahmen in Möglichkeiten und Möglichkeiten in Handlungen. Jede kleine Relativierung ist ein Tropfen Benzin. Und dann reicht ein Funke.
Worte sind nicht harmlos. Sie sind die ersten Waffen. Jede Entgleisung, die durchgeht, wird zur Einladung für die nächste. Jede Hetzrede, die ungestraft bleibt, macht das nächste Messer wahrscheinlicher.
Die Zündler hinter den Kulissen
Die eigentlichen Täter stehen selten im Rampenlicht. Sie sind klüger. Sie sitzen in Studios, sie sprechen in Mikros, sie posten in Kanälen. Sie nennen sich «kritisch», «frei», «ungefiltert», sehen sich als Opfer. Doch in Wahrheit sind sie Zulieferer und Möglichmacher. Zulieferer und Möglichmacher der Gewalt.
Sie sagen: «Wir haben doch nur Fragen gestellt.» Sie sagen: «Wir geben doch bloss Raum für alle Meinungen.» Sie sagen: «Wir distanzieren uns selbstverständlich von Gewalt.» Aber: Sie wissen, was sie tun. Sie bauen den Resonanzraum, in dem Gewalt nicht mehr absurd, sondern möglich klingt, ist, wird. Sie verschieben und ziehen die Linie, an der Menschen beginnen, sich im Recht zu fühlen, wenn sie zuschlagen.
Historische Muster, neue Bühnen
Es ist kein neues Spiel. Von den Rednertribünen der Dreissigerjahre über die Radios Mitte der Neunziger, die Völkermord vorbereiteten, bis zu heutigen Social Media-Kanälen: Es sind nie nur die Schlägertrupps, die Geschichte schreiben. Es sind die Redner, die Hetzer, die Dauerironiker. Die, die den Boden bereiten, bis er brennt.
Die Bühne hat sich verschoben. Früher der Marktplatz, heute der Newsfeed. Früher die Flugblätter, heute der Share-Button. Aber die Mechanik bleibt dieselbe: zündeln, normalisieren, verschieben, bis jemand tut, was alle «nur gesagt» haben.
Die stille Mehrheit als Komplizin
Noch gefährlicher als die lautesten Hetzer ist aber das Schweigen der Vielen. Das Augenrollen, wenn wieder jemand «übertreibt». Das Kopfschütteln, wenn jemand warnt. Das geduldige Aushalten, als wäre das alles nur eine Phase.
Schweigen aber ist kein Schutzschild. Schweigen ist Einwilligung. Normalisierung entsteht nicht durch Schreihälse alleine, sondern auch durch jene, die es hinnehmen.
Der Hebel liegt im Tabu
Wir dürfen nicht länger warten, bis die Bombe hochgeht, um uns dann über eben diese lauthals oder stillschweigend zu empören. Es liegt an uns, das Tabu zu verschieben. Gewalt darf nicht erst am Messer beginnen. Gewalt beginnt bei den Worten, die sie möglich machen. Wer zündelt, ist Täter. Wer rechtfertigt, ist Komplize. Wer applaudiert, ist Mittäter.
Es geht nicht darum, Meinungsäusserung zu unterdrücken. Es geht darum, die Schwelle klar zu ziehen: zwischen Kritik und Hetze, zwischen Debatte und Aufruf. Unsere freie Gesellschaft lebt von Widerspruch, und sie stirbt an Hetze.
Die Aufgabe unserer Zeit
Die Spitze des Speers ist tödlich. Doch ohne Schaft ist sie nutzlos. Wer Frieden will, muss den Schaft brechen, also Normalisierung stoppen. Das heisst: klare rote Linien ziehen. Das heisst: keine Bühne mehr für das «nur Fragen stellen». Das heisst: keine Toleranz für das Gift, das sich als Debatte tarnt.
Solange die Brandstifter ungestört zündeln dürfen, wird es immer neue Täter geben.
Es ist leicht, auf den Schlag zu zeigen. Schwerer ist es, auf das Klima zu zeigen, das ihn hervorgebracht hat. Dort aber liegt unsere gesellschaftliche Verantwortung, unsere Aufgabe.