Cancel Culture kennt keine Richtung: Links, rechts und das gleiche Spiel
Cancel Culture galt lange als linkes Phänomen. Moralisch begründet, getragen von Bewegungen wie #MeToo, «woke» im Anspruch, Gerechtigkeit zu schaffen. Doch mit Donald Trump und der konservativen Wende zeigt sich: Rechts wird nicht weniger gecancelt, ausgeschlossen, verbannt, nur unter anderen Vorzeichen. Ist Cancel Culture gar keine Frage der Ideologie, sondern Ausdruck einer Gesellschaft, die gelernt hat, Moral als Waffe einzusetzen?
Die eigentliche Frage ist nicht, wer cancelt. Sondern, ob wir bereit sind, einander wieder zuzuhören, bevor wir das nächste Pendel in Bewegung setzen. Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Mode hat viele Gesichter. Sie steckt nicht nur in Kleidung, Musik oder Design, auch in moralischen Haltungen. «Woke» etwa. Ursprünglich ein Ausdruck des Erwachens gegen Ungerechtigkeit, heute von der Gegnerschaft zur Schmähung umgedeutet. Sprache selbst wird zur Arena, in der Kämpfe um Deutungshoheit ausgefochten werden. Wer sich «woke» nennt, bekennt sich zu Achtsamkeit und Sensibilität. Wer andere als «woke» beschimpft, erklärt sie für übertrieben empfindlich, ideologisch verbohrt. Schon hier zeigt sich, wie eng Moral und Mode ineinander greifen: Ein Wort, das für Wachheit stand, wird zum Synonym für Blindheit erklärt.
Mode des Moralischen. Cancel Culture begann als solches Modephänomen, aber nicht im harmlosen Sinn einer flüchtigen Pose. Sie wurde zum moralischen Marker. Wer cancelte, zeigte Haltung, positionierte sich sichtbar auf der «richtigen» Seite. Wer gecancelt wurde, galt als untragbar, als moralisch erledigt. Im Spiel der Öffentlichkeit gibt es keine Grautöne. Das Urteil fällt schnell, und es ist endgültig.
Die linke Cancel Culture: Befreiung und Übertreibung
Ihr Ursprung liegt in progressiven Bewegungen: im Feminismus, im Antirassismus, im LGBTQ+-Aktivismus. In jenen Strömungen also, die das Ziel hatten, über Generationen gewachsene Machtungleichheiten zu korrigieren. #MeToo war der Kulminationspunkt. Es war notwendig, dass Strukturen des Schweigens aufgebrochen wurden. Millionen Frauen erzählten erstmals öffentlich, was ihnen angetan worden war. Die Empörung war echt, die Aufdeckung von Machtmissbrauch dringend, und längst überfällig.
Und die Praxis war gnadenlos. Karrieren endeten über Nacht. Kevin Spacey wurde aus Filmen herausgeschnitten, Louis C.K. verschwand von der Bühne, noch bevor ein Gericht sprach. Cancel Culture ist schneller als jede Justiz. Und erbarmungsloser. Sie agierte mit der Wucht der Empörung, ohne Filter der Verhältnismässigkeit. Die Stärke dieser Bewegung war ihre moralische Dringlichkeit. Ihre Schwäche: die fehlende Unterscheidung. Zwischen Täter und Grenzgänger, zwischen systematischem Missbrauch und ungeschicktem Verhalten wurde kaum mehr differenziert. Alles wurde gleichgesetzt, alles gelöscht.
Damit stellte sich die Frage: Wie weit darf Befreiung gehen, wenn sie in Vernichtung endet? Wer entscheidet, ob eine Tat korrigierbar ist oder nicht? Und wie viel Vertrauen darf man einer Öffentlichkeit schenken, die immer nach der grössten Geste verlangt?
Die rechte Cancel Culture: Das Pendel schwingt zurück
Und dann kam Donald Trump. Einer, der sich selbst als Opfer der «liberalen Cancel Culture» inszenierte und gleichzeitig die Mechanik für seine eigene Seite nutzte. Er prangerte die linke Empörungskultur an und schuf gleichzeitig seine eigene.
Plötzlich wurde nicht mehr nur gecancelt, wer sexistisch oder rassistisch auffiel. Nun wurden auch jene gecancelt, die «zu wenig patriotisch» waren. Colin Kaepernick kniete während der Hymne und verlor seine Karriere. Lehrer:innen, Kunst- und Medienschaffende, die zu kritisch oder zu liberal waren und sind, wurden und werden öffentlich diffamiert, entlassen, stummgeschaltet. Ganze Nachrichtenhäuser wurden als «Fake News» gebrandmarkt.
Noch radikaler: Ganze Inhalte verschwanden. Bücher mit LGBTQ+-Themen wurden aus Bibliotheken verbannt. Schullektüren wurden zensiert. Queere Jugendliche sahen ihre Lebensrealitäten unsichtbar gemacht. Die Cancel-Keule der Rechten schlug genauso hart, nur mit anderen Argumenten. Statt um Sexismus oder Rassismus ging es um Loyalität, Nationalstolz, «saubere» Werte.
Das Muster bleibt gleich, das Vokabular ändert sich.
Das Pendel zwischen Extremen
Cancel Culture ist ein Pendel. Zuerst schlug es nach links, im Namen von Gerechtigkeit und Sichtbarkeit. Nun schwingt es nach rechts, im Namen von Tradition und Reinheit. In beiden Fällen war die Bewegung radikal, nicht ausgleichend. Das Paradox ist offenkundig: Beide Seiten legitimieren ihr Vorgehen mit Schutz. Die Linke vor Diskriminierung und Gewalt, die Rechte vor «Verderbnis» oder «Indoktrination». Und in beiden Fällen bedeutet Schutz, andere Stimmen auszuschliessen.
Das Pendel schlägt nicht in der Mitte aus, sondern immer in die Extreme. Die Mitte ist leer, dort bleibt nur Schweigen. Was bleibt, ist eine Gesellschaft im Dauerzustand des moralischen Überbietens, die jede Grauzone verloren hat. Das Muster ist zyklisch: Jede Seite rechtfertigt ihre Härte mit dem Hinweis auf die Härte der anderen. Jede Seite beansprucht, nur zu reagieren. Am Ende wird so aus Verteidigung Angriff, aus Schutz eine neue Form von Gewalt.
Gemeinsame Mechanismen: der Gerichtshof der Öffentlichkeit
Links wie rechts bedienen sich derselben Mechanik. Ein Vorfall wird skandalisiert, die Empörung vervielfältigt, Social Media verwandelt sie in einen Sturm. Die Öffentlichkeit ersetzt die Justiz, das Urteil fällt schneller und härter, als es ein Gericht je könnte. Und am Ende steht der Ausschluss. Karrieren, Werke, Ideen verschwinden aus der Wahrnehmung, als wären sie nie da gewesen.
Hinter diesem Muster steckt mehr als Ideologie. Es ist ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Wir suchen die moralische Selbstvergewisserung. Wir wollen zeigen, dass wir auf der «richtigen» Seite stehen. Wer sich am Canceln beteiligt, reinigt sich symbolisch. Wer gecancelt wird, trägt die Schuld für das Kollektiv. Es ist eine uralte Logik des Sündenbocks, übertragen in die digitale Welt. Cancel Culture ist damit weniger eine Frage der Moral als eine Frage der Macht.
Das Paradox des Canceln
Cancel Culture will befreien, aber knebelt. Sie will schützen, aber zerstört. Sie will gerecht sein, aber wird selbst ungerecht. Sie behauptet, Missbrauch zu verhindern, aber missbraucht selbst die Macht der Öffentlichkeit.
Das eigentliche Paradox liegt darin, dass Cancel Culture der Gesellschaft die Möglichkeit nimmt, Fehler zu verarbeiten. Wer einmal gecancelt ist, kann sich nicht mehr entwickeln, nichts mehr richtigstellen, keine Reue zeigen. Die Idee von Vergebung, von Lernen aus Irrtümern, verschwindet.
In dieser Hinsicht ist Cancel Culture das Gegenteil von Aufklärung. Sie ersetzt Dialog durch Verdammung. Sie verhindert Entwicklung, weil sie keine Rückkehr erlaubt.
Eine Gesellschaft ohne Vergebung?
Die tiefere Frage lautet: Was sagt Cancel Culture über uns aus? Vielleicht dies: Wir haben das Verzeihen verlernt. Wir haben aufgehört, zwischen Schuld und Irrtum zu unterscheiden. Wir kennen nur noch schwarz oder weiss, rein oder unrein, drinnen oder draussen.
Dabei war die Stärke der westlichen Gesellschaften immer die Fähigkeit zur Ambivalenz. Demokratie lebt davon, dass gegensätzliche Stimmen nebeneinander existieren können. Cancel Culture aber will Eindeutigkeit. Sie duldet keine Mehrdeutigkeit, kein Zögern, keine Suche. Und genau das macht sie so gefährlich – egal ob von links oder von rechts betrieben.
Restorative Culture statt Cancel Culture
Wollen wir über Cancel Culture hinauskommen, dann benötigen wir ein anderes Modell. Eines, das nicht auf Rache basiert, sondern auf Wiederherstellung. «Restorative Culture» könnte man das nennen: eine Kultur, in der Fehler benannt werden dürfen, aber nicht automatisch zur Auslöschung führen. Ein Raum, in dem Heilung möglich bleibt.
Das bedeutet nicht, Verfehlungen zu verharmlosen. Es bedeutet, Menschen nicht auf ihre schlimmste Tat zu reduzieren. Es bedeutet, Raum zu schaffen für Dialog, für Entwicklung, für zweite Chancen. Denn eine Gesellschaft, die nur cancelt, bleibt in Endlosschleifen gefangen. Das Pendel schlägt hin und her, ohne jemals zur Ruhe zu kommen.
Cancel Culture ist keine Mode, kein exklusives Produkt des linken oder rechten Spektrums. Sie ist der Spiegel einer Gesellschaft, die Moral zur Waffe gemacht hat.
Die eigentliche Frage ist daher nicht, wer cancelt. Sondern, ob wir bereit sind, einander wieder zuzuhören, bevor wir das nächste Pendel in Bewegung setzen.