Wer bin ich?
«Wer bin ich?» – eine Frage, die Philosophinn:en, Denkerinn:en und spirituelle Lehrerinn:en seit jeher bewegt. Antworten scheinen greifbar nah: Name, Beruf, Körper, Vergangenheit. Doch ein tieferer Blick zeigt, wie flüchtig und wandelbar diese Identitätsmerkmale sind. Der Name ist oft nur ein Etikett, der Körper ein temporäres Gefäss, und der Beruf eine Rolle. Wie verlässlich sind diese Oberflächen, wenn es um die Suche nach dem wahren Selbst geht? Mit diesem Artikel lade ich ein zu einer Erkundung jenseits der üblichen Definitionen – und wünsche Fragen aufzuwerfen, die das Selbst in seiner Tiefe und Offenheit erahnen lassen.
Daniel Frei – «Wer bin ich?» – eine Frage, die sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte zieht. Antworten scheinen greifbar: ein Name, ein Beruf, ein Körper, eine Lebensgeschichte. Aber bei genauerem Hinschauen schwindet die Gewissheit, und ein tieferes, unfassbares Selbst rückt in den Blick. Dieser Text soll das Ich neu erkunden und Fragen aufwerfen, die uns vielleicht einen Schritt näher an unser wahres Selbst führen können.
Name und Identität – Das erste Bild des Ichs
Wenn man fragt, wer jemand ist, nennt die Person oft als Erstes ihren Namen. Namen schaffen eine Illusion des Greifbaren. Sie scheinen etwas Festes und Erkennbares zu sein. Doch ist ein Name wirklich mehr als ein Etikett?
Michel Foucault meinte: «Ich bin kein Prophet. Mein Job ist es, Fenster zu öffnen.» Namen können also als Fenster dienen, die in die Weiten des Selbst führen, aber niemals das ganze Bild zeigen. Wir sind nicht unser Name, sondern vielmehr das, was sich hinter ihm verbirgt.
Im Buddhismus werden Namen und Identität als Konstruktionen betrachtet, die das «wahre» Selbst verdecken. Die Frage bleibt: Sind wir nur das Etikett, das uns gegeben wurde, oder ist der Name lediglich ein Versuch, etwas Unfassbares zu benennen?
Der Körper als Zuhause des Ichs?
Der Körper scheint der unmittelbare Ausdruck des Ichs zu sein – das Zentrum unserer Sinneserfahrungen und das Mittel, durch das wir die Welt wahrnehmen. Doch auch der Körper ist vergänglich und unterliegt ständiger Veränderung. Buddhistisch betrachtet ist der Körper ein temporäres Gefäss, das uns durch die Welt trägt, aber er ist nicht das eigentliche Selbst.
Der Dalai Lama sagte dazu: «Erkenne, dass der Körper zerbrechlich ist wie ein Tontopf, und geh bedächtig mit ihm um.» Der Körper ist also eher ein Haus, das uns vorübergehend beherbergt, als eine endgültige Antwort auf die Frage, wer wir sind. Er vermittelt unsere Erfahrungen, ist aber nicht das gesamte Ich.
Beruf und Rollen – Die äusseren Masken des Selbst
In unserer modernen Welt identifizieren sich viele von uns stark, zu stark, mit ihrem Beruf. «Ich bin Ärztin», «Ich bin Künstler», «Ich bin Lehrerin». Solche Aussagen suggerieren, dass der Beruf einen zentralen Teil des Selbst ausmacht. Doch was geschieht, wenn man den Beruf verliert oder wechselt? Geht ein Teil des Selbst verloren? Wer schon einmal Stellenlosigkeit erlebt hat, dem ergeht es oft so.
Der buddhistische Lehrer Thich Nhat Hanh betont die Bedeutung des Nichtanhaftens: «Du bist nicht deine Rolle. Du bist weit mehr als das.» Rollen sind wie Kleidung, die wir je nach Situation wechseln. Sie sind wertvoll und notwendig, aber sie definieren nicht unser tiefstes Wesen. Sie sind Masken, die wir tragen, jedoch nicht das wahre Selbst.
Das kollektive Selbst – Ich als Teil eines Ganzen
Ein tieferer Blick zeigt, dass das Ich nicht nur individuell ist, sondern auch Ausdruck eines kollektiven Bewusstseins. Der Schweizer Psychologe C.G. Jung sprach vom «kollektiven Unbewussten», einer gemeinsamen Basis aller Menschen, die sich in Archetypen und gemeinsamen Symbolen ausdrückt. In der buddhistischen Idee des «Inter-Being» sind wir untrennbar mit anderen Lebewesen und der Welt verbunden.
Wir sind also nie ganz allein, sondern stets Teil eines grösseren Ganzen. Das Ich existiert nur in Bezug auf die Welt um uns herum und den Menschen, die uns prägen und begleiten. Vielleicht liegt in dieser Verbundenheit eine Antwort auf die Frage nach unserem Selbst.
Das Ego und ich – Eine Differenzierung
Eine wichtige Unterscheidung auf der Suche nach dem Selbst ist die zwischen dem Ego und dem wahren Ich. Das Ego, unsere äussere Identität, ist oft ein Abwehrmechanismus, der auf Kontrolle und Selbstbehauptung ausgerichtet ist. Doch viele spirituelle Lehrer wie Eckhart Tolle oder Ramana Maharshi sprechen von einem «tieferen Selbst», das jenseits des Egos liegt – das wahre Ich, das in der Stille und Präsenz gefunden werden kann.
Das Ego ist eine notwendige Funktion in der Gesellschaft, doch es ist nicht das wahre Selbst. Das wahre Ich ist still und gegenwärtig, ein inneres Bewusstsein, das das Ego übersteigt und uns mit dem gesamten Universum verbindet.
Das Ich in der Zeit – Ein wandelbares Selbst
Erinnerungen und Erfahrungen prägen unser Selbstverständnis. Die Erinnerung an die Vergangenheit, das Erleben der Gegenwart und die Vorstellung der Zukunft formen unser Ich. Doch was passiert, wenn wir diese Zeitlichkeit als Illusion begreifen?
Im Buddhismus wird das Selbst als Prozess gesehen, der sich ständig wandelt – wie ein Fluss, der niemals stillsteht. Der Philosoph Heraklit sagte: «Panta rhei» – alles fliesst. Vielleicht sind wir nur eine Welle in diesem Fluss der Zeit, eine Momentaufnahme eines immerwährenden Wandels.
Das Nichts und die Leere – Das Selbst im buddhistischen Verständnis
In der buddhistischen Lehre gilt das Konzept des «Nichtselbst» (Anatta) als zentrale Erkenntnis: Es gibt kein festes Ich. Alles ist in ständiger Veränderung. Diese Leere (Sunyata) wird nicht als Verlust, sondern als Freiheit verstanden – die Freiheit, nicht an einem starren Selbstbild festzuhalten, sondern das Leben fliessend zu erleben.
Der Zen-Meister Dogen dazu: «Um dich selbst zu erfahren, musst du dich selbst vergessen.» Dieses «Selbstvergessen» bedeutet, das Ich als eine leere Leinwand zu sehen, auf die alle Erfahrungen projiziert werden, ohne festzuhalten oder anzuhaften.
Die Neurowissenschaften und ich – Das Gehirn als Konstrukteur
Moderne Neurowissenschaften betrachten das Ich als Konstrukt des Gehirns. Laut dem Philosophen und Neurowissenschaftler Thomas Metzinger existiert das Ich als ein «Selbstmodell», das unser Bewusstsein projiziert. Dieses Modell hilft uns, mit der Umwelt zu interagieren, ist jedoch kein festes Ding.
Die Erkenntnis, dass das Ich neurologisch gesehen ein dynamisches Modell ist, zeigt, dass unser Selbstbild ein Produkt von neuronalen Prozessen und ständiger Anpassung ist. Das Selbst ist daher mehr ein Konstrukt als eine feste Entität.
Die Suche nach Glück und das Leiden des Ichs
Ein zentraler Gedanke im Buddhismus ist, dass das Anhaften an ein festes Ich Leid verursacht. Das Ego versucht, Kontrolle und Besitz zu wahren, um Glück zu finden, doch paradoxerweise schafft dies oft mehr Leid. Buddha lehrte, dass das Loslassen von Anhaftung zur Befreiung führt.
Vielleicht ist die Suche nach dem Ich letztlich auch die Suche nach einem Glück, das sich jenseits des Egos findet – in einem Zustand, in dem wir uns als Teil des Ganzen erleben, frei von den Ketten des eigenen Willens.
Das Selbst als kreatives Spiel – Die spielerische Dimension des Ichs
Im Taoismus und in vielen östlichen Philosophien wird das Selbst auch als ein kreativer Prozess betrachtet. Das Ich ist nicht nur eine Frage der Identität, sondern eine kreative Kraft, die sich je nach Situation und Erfahrung neu erfindet. Wir können unser Selbst gestalten und das Ich als ein Spiel betrachten, ein Tanz der Möglichkeiten.
Diese spielerische Haltung eröffnet Freiheit: Das Ich muss nicht statisch sein, sondern kann flexibel, neugierig und erfinderisch mit der Welt interagieren.
Die Frage bleibt – Wer bin ich?
Nach dieser Reise bleibt die Frage «Wer bin ich?» bewusst unbeantwortet. Vielleicht geht es ja auch weniger darum, eine endgültige Antwort zu finden, als vielmehr eine Beziehung zu sich selbst und zur Welt aufzubauen, die sich ständig verändert. Das Selbst ist wie ein Tanz, der nur im Hier und Jetzt erfahren werden kann.
Das wahre Selbst liegt vielleicht jenseits aller Begriffe, in einem Zustand der Freiheit und Offenheit. Es ermutigt uns, loszulassen, zu hinterfragen und die eigene Erfahrung als Prozess anzunehmen. Die buddhistische Lehre des Loslassens erinnert uns daran, das «Ich» nicht als starres Etwas zu betrachten, sondern als eine lebendige Frage, die in jedem Moment neu gestellt werden kann.
Quellen
Foucault, Michel: «Ich bin kein Prophet. Mein Job ist es, Fenster zu öffnen.» In: Überwachung und Strafe, 1975.
Dalai Lama: Zitat aus: Ethik für das neue Jahrtausend, 1999
Thich Nhat Hanh: Zitat aus: Das Herz der Lehre Buddhas, 1998
Jung, Carl: Das kollektive Unbewusste. In: Gesammelte Werke, 1953
Heraklit: «Panta rhei.»
Metzinger, Thomas: Das Ich als Selbstmodell. In: Der Ego-Tunnel, 2009
Dogen: «Um dich selbst zu erfahren, musst du dich selbst vergessen.»