Wunschlos unglücklich – Die Tragödie der Erfüllung

Wir streben, wir kämpfen – aber was, wenn es nichts mehr zu wünschen gibt? Wer nichts hat, will alles. Wer alles hat, will nichts mehr. Und wer sich nichts mehr wünscht, ist leer. Unsere Gesellschaft verkauft Glück als Wunscherfüllung: das nächste Produkt, der nächste Karrieresprung, die nächste Selbstoptimierung. Doch Wunschlosigkeit ist keine Erlösung. Denn Wünsche sind der Motor unseres Daseins. Perfektion ist eine Fata Morgana. Zufriedenheit ist Stillstand. Und wer alles erreicht hat, wünscht sich oft nur noch eines: wieder etwas zu erstreben. Glück liegt nicht in der Erfüllung, sondern im Streben. Wer nichts will, hat schon verloren.

Glück liegt nicht in der Erfüllung, sondern im Streben. Wer nichts will, hat schon verloren. Fotografie: Daniel Frei

Glück liegt nicht in der Erfüllung, sondern im Streben. Wer nichts will, hat schon verloren. Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Es gibt eine seltsame Ironie in unserem Dasein: Wer nichts hat, wünscht sich alles. Wer alles hat, wünscht sich nichts mehr. Und wer sich nichts mehr wünscht, ist unglücklich. Das ist die Tragödie der Erfüllung. Es scheint, als sei unser Leben so eingerichtet, dass wir immer auf dem Weg zu etwas sind, aber nie ankommen. Denn was bleibt übrig, wenn es nichts mehr zu erstreben gibt?

In unserer Gesellschaft, die uns unermüdlich suggeriert, dass Glück durch Wunscherfüllung entsteht – durch das nächste Produkt, den nächsten Karrieresprung, die nächste Selbstoptimierung –, ist das «wunschlose Glück» der ultimative Werbetraum. Die vollkommene Zufriedenheit, verkauft in Hochglanzbildern, die uns einreden, dass das Leben dann perfekt ist, wenn nichts mehr fehlt.

Aber wer sagt eigentlich, dass dieser Zustand wünschenswert ist? Was passiert, wenn wir wirklich an diesem Punkt ankommen? Eine selten gestellte Frage, vielleicht weil ihre Antwort beunruhigend ist: Wer sich nichts mehr wünscht, ist nicht glücklich. Er ist leer. Denn Wünsche sind nicht nur Sehnsüchte, sie sind der Motor unseres Daseins.

«Warum der Mensch wünschen muss»

Der Philosoph Ernst Bloch sagte: «Der Mensch lebt nicht von dem, was er ist, sondern von dem, was er noch nicht ist.» Wir definieren uns nicht durch das, was wir erreicht haben, sondern durch das, was wir noch erreichen wollen. Unser Leben entsteht nicht im Haben, sondern im Fehlen, im Streben, im Noch-nicht.

Kinder wünschen sich, erwachsen zu werden. Erwachsene wünschen sich, jung zu bleiben. Erfolgreiche Menschen wünschen sich oft nichts sehnlicher als die Unschuld des Anfangs zurück. Es ist ein ewiger Kreislauf, ein paradoxes Spiel, in dem der Mensch immer genau das ersehnt, was er gerade nicht hat. Das Problem ist nicht, dass wir nie zufrieden sind. Das Problem ist die Vorstellung, dass Zufriedenheit das Ziel sein sollte. Denn Zufriedenheit ist nicht Erfüllung. Zufriedenheit ist Stillstand.

«Die Langeweile des Erreichten»

Stellen Sie sich vor, Sie wachen auf, und alles, wirklich alles, was Sie sich je gewünscht haben, ist in Erfüllung gegangen. Ihr Bankkonto zeigt einen absurd hohen Betrag an. Ihr Körper ist perfekt, unsterblich und immer gesund. Alle Probleme sind gelöst, alle Unsicherheiten beseitigt. Jeder Mensch, den Sie lieben, ist glücklich. Was tun Sie dann? Vielleicht ist die erste Woche grossartig. Und dann?

Wer alles erreicht hat, wünscht sich oft nur noch eines: einen neuen Wunsch. «Das grosse Danach» nennen es diejenigen, die es erlebt haben. Eine plötzliche, unheimliche Stille, eine Leere, eine Sinnleere. Ein Leben ohne Mangel – und ohne Richtung. Menschen, die scheinbar alles haben, berichten oft von einer tiefen inneren Krise. Lotto-Millionär:innen, erfolgreiche Unternehmer:innen, Weltstars – viele von ihnen fallen nach dem Erreichen ihres Ziels in eine seltsame Form der Sinnlosigkeit, erkranken an einer Depression. Nicht, weil sie ihr Geld oder ihren Ruhm nicht geniessen, sondern weil sie merken, dass die Reise vorbei ist. Und das Ziel, von dem sie dachten, es bringe Glück, erweist sich als Ende eines Weges, der nicht weiterführt. «Die Hölle, das sind die anderen.», so Jean-Paul Sartre. Für viele, die alles erreicht haben, ist die Hölle nicht die Gesellschaft, sondern das Fehlen von Wünschen.

«Warum Verzicht nicht die Lösung ist»

Eine in den Medien populäre Gegenreaktion auf diese Leere ist der (totale) Verzicht. Die Flucht ins Nichts. Askese als Antwort, Yoga, Meditation, Fasten, Reduktion der eigenen Habe. «Wer nichts will, leidet nicht», lautet die buddhistisch inspirierte Theorie. Doch auch sie führt in eine Sackgasse: auch Verzicht ist ein Wunsch. Wer nichts besitzen will, wünscht sich Besitzlosigkeit. Wer keine Karriere will, wünscht sich eine Welt, in der er ohne Karriere glücklich sein kann. Wer sich keine Liebe wünscht, wünscht sich oft die Freiheit von Enttäuschung und Verletzungen. Die Flucht ins völlige Nichts ist also nur eine andere Art von Streben. Die Idee, sich durch Wunschlosigkeit von Unglück zu befreien, ist eine (Selbst-)Täuschung. Denn sie setzt immer noch den Wunsch nach Befreiung voraus.

«Die Illusion des perfekten Lebens»

In unserer Welt gibt es eine seltsame Denkweise: Je mehr wir uns optimieren, desto näher kommen wir dem idealen Zustand. Die perfekte Work-Life-Balance. Der perfekte Körper. Die perfekte Ernährung. Doch Perfektion ist eine Fata Morgana, eine Fantasie, ein Konzept, eine Idee, ein Ziel, das sich immer weiter verschiebt. Das nächste Level, die nächste Herausforderung, das nächste Produkt – es gibt immer eine neue Stufe, die erreicht werden kann. Und wenn nicht? Dann kommt eben die Leere. Oscar Wilde sagte einmal: «Es gibt nur zwei Tragödien im Leben: Nicht zu bekommen, was man will – und es zu bekommen.» Wer seine Wünsche erfüllt, stellt fest, dass die Lösung nicht in der Erfüllung lag. Denn das Ziel war nie das Ziel. Der Weg war es.

«Der Trick ist nicht Wunschlosigkeit, sondern das richtige Wünschen»

Wenn absolute Zufriedenheit eine Illusion ist und Verzicht keine Lösung – was bleibt dann? Die bewusste Wahl der Wünsche. Wünschen bedeutet nicht zwangsläufig Unzufriedenheit. Es bedeutet, sich in Bewegung zu halten, ein Ziel zu haben, das jenseits des blossen Höher, Schneller, Weiter liegt. Wünsche müssen nicht immer grösser, schneller, weiter sein. Manchmal reicht es, dass sie in eine Richtung weisen, die für uns sinnstiftend ist.

«Das Glück liegt nicht im Erfüllen, sondern im Streben»

Glück ist nicht das Ergebnis von Wunscherfüllung. Es ist ein Nebenprodukt von Bewegung. Von Entwicklung. Von Sinn. Friedrich Nietzsche meinte: «Hat man sein Warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Wie.» Es geht nicht darum, das perfekte Leben zu erreichen. Es geht darum, ein Leben zu führen, das in sich selbst einen Sinn trägt.

«Wunschlos unglücklich» zu sein, ist kein Widerspruch. Es ist die logische Konsequenz eines Denkens, das uns vorgaukelt, dass Glück durch Erfüllung entsteht. Doch in Tat und Wahrheit entsteht Glück durch Sinn. Und Sinn entsteht durch Bewegung.

Also: Wünschen Sie sich etwas. Und wünschen Sie sich das «Richtige».