Die Einsamkeit der Führungsperson: über Führung, Trennung und innere Freundschaft
Führen kann verbinden – und gleichzeitig trennen. Wer Verantwortung übernimmt, rückt in eine andere Position. Beobachtet statt nur zu erleben. Entscheidet, wo andere abwarten. Und trägt – oft unbemerkt – eine Einsamkeit, die nicht persönlich ist, sondern strukturell. Warum Einsamkeit zum Wesen von Führung gehört. Warum sie nicht vermieden, sondern verstanden werden will. Und wie innere Klarheit, systemisches Denken und buddhistische Weisheit helfen können, diese Einsamkeit nicht als Last, sondern als Raum zu begreifen – für Integrität, Weitsicht und Selbstführung.
Führung ist nicht Teil der Gruppe, sondern deren Grenze. Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Allein an der Spitze? Es gibt diesen Satz, der in Führungskreisen, oft mit einem halbironischen Lächeln, ausgesprochen wird: «It’s lonely at the top.» Ein müder Spruch, fast eine Floskel. Doch wie bei vielen abgedroschenen Phrasen liegt darin auch Wahrheit – verborgen unter der Routine der Wiederholung. Wer führt, steht nicht nur vorn. Sondern oft auch allein.
Die Trennung ist real – und strukturell
In der systemischen Sichtweise ist Führung kein Persönlichkeitsmerkmal, sondern eine Funktion. Diese Funktion verlangt Distanz und sie erzeugt Differenz. Sie bringt einen Menschen in eine andere Systemposition – mit anderen Erwartungen, anderen Beobachtungen, anderen Verantwortlichkeiten.
Führung ist nicht Teil der Gruppe, sondern deren Grenze. Wer führt, wird zur Schnittstelle zwischen Innen und Aussen, zwischen Jetzt und Zukunft, zwischen Wunsch und Realität. Genau diese Grenzfunktion macht einsam. Nicht, weil man nicht dazugehört. Sondern weil man nicht ganz dazugehören darf.
Nähe als Illusion
Die moderne Führungssprache ist durchsetzt von Begriffen wie «authentisch», «nahbar», «auf Augenhöhe». Und ja, das sind wichtige Werte. Sie ersetzen aber nicht die strukturelle Einsamkeit von Führung. Wer denkt, Nähe sei die Lösung für alles, wird entweder übergriffig oder beliebig oder beides.
Systemtheoretisch gesagt: Wer die Rolle mit der Person verwechselt, riskiert Rollenkonflikte. Und genau das erleben viele Führungskräfte: dass sie emotional vereinnahmt werden, weil sie keine klare Grenze ziehen. Oder dass sie sich aus Angst vor Einsamkeit anpassen – und die Führung verlieren.
Leerheit statt Ego
Im Buddhismus ist die Idee der Leerheit zentral: Alles ist abhängig entstanden, nichts existiert aus sich selbst heraus. Auch das «Ich» nicht. Für Führung bedeutet das: Die Einsamkeit entsteht, wenn das Ego sich mit der Rolle identifiziert. «Ich muss das allein entscheiden», «Ich bin verantwortlich», «Ich darf mir keine Schwäche leisten.»
Diese Ich-Sätze sind verständlich. Und Quelle des Leidens zugleich. Denn sie führen in ein inneres Getrenntsein, das vermeidbar wäre. Leerheit dagegen erlaubt Führung ohne Anhaftung. Ohne Besitzanspruch. Ohne Drama. «Führen bedeutet, Verantwortung zu übernehmen – aber nicht, sich mit der Verantwortung zu identifizieren.», so Zen-Meisterin Shunryu.
Die innere Freundschaft: Was wirklich trägt
Wer in der Lage ist, sich selbst mit Klarheit und Mitgefühl zu begegnen, führt besser – und leidet weniger. Diese innere Freundschaft ist keine romantische Idee. Sie ist eine Einstellung. Eine Disziplin. Man könnte sagen: Selbstführung ist nichts anderes als das tägliche Üben von innerer Kohärenz.
Coachingprozesse offenbaren dabei oft Erstaunliches: Die stärksten Führungspersönlichkeiten sind nicht die lautesten, sondern die innerlich ruhigsten. Menschen, die gelernt haben, im Lärm des Aussen eine eigene Stille zu kultivieren. In dieser Stille entsteht Entscheidungsfähigkeit. Und Integrität.
Ein Entscheid ohne Applaus
Eine geschäftsführende Person eines Sozialunternehmens steht vor einer unbequemen Entscheidung: Eine geliebte, aber ineffiziente Abteilung soll geschlossen werden. Das Team spricht sich dagegen aus. Der Verwaltungsrat zögert. Die Medien könnten es falsch darstellen. Und doch ist es strategisch notwendig.
Im Coaching sagte die Person: «Ich habe das Gefühl, ich verrate alle.» Die Frage war: Was ist der grössere Verrat – der gegen andere oder der gegen sich selbst? Die Entscheidung fiel. Es gab Kritik. Aber es gab auch Respekt. Und, nach einem halben Jahr, Anerkennung.
Führung bedeutet: nicht das zu tun, was alle wollen. Sondern das, was richtig ist – in Verantwortung und Demut.
Einsamkeit ist keine Strafe – sie ist ein Ort
Umd dieser Ort ist unbequem. Er hat keine weichen Polster. Keine Likes. Kein Schulterklopfen. Aber er hat Tiefe. Wer dort stehen kann, ohne sich selbst zu verlieren, führt nicht nur besser. Sondern ganzer. Und klarer.
Einsamkeit wird dann zu einem inneren Resonanzraum. Nicht leer, sondern leer von Ablenkung. Nicht kühl, sondern klar. Kein Ort der Isolation, sondern der Rückverbindung. Vielleicht ist genau das die «neue» Idee: Einsamkeit nicht zu vermeiden, sondern sie bewohnbar zu machen.
The Empty Leader
Räume statt Rezepte
«The Empty Leader» ist ein Raum aus 50 Thesen – und ein Retreat in den Bergen, wo wir diese Räume betreten.
Nicht, um alles zu klären. Sondern um klarer zu sehen, was ungeklärt bleiben darf.
Wenn Sie spüren, dass Führung mehr sein kann als Zuständigkeit, mehr Bewegung als Besitz – dann folgen Sie dem Ruf und entdecken Sie den ganzen Weg:
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The Empty Leader
50 Thesen, Essays
danielfrei.ch/empty-leader
Retreat in Mürren
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