Die Flucht vor der Zeit: Warum und wie «schnell» und «kurz» unser Leben beeinflussen

Worte wie «schnell» und «kurz» sind zu unseren ständigen Begleitern geworden. Symbole eines unermüdlichen Rennens gegen die Uhr? Es scheint, als haben wir gelernt, Zeit als eine Gegnerin zu betrachten, die es zu besiegen (und manchmal auch totzuschlagen) gilt. In diesem Text werfe ich einen Blick auf die subtilen und prägenden Auswirkungen dieser Worte auf unser Leben und plädiere für eine Neugestaltung unserer Beziehung zur Zeit.

Warum «schnell» und «kurz» unser Leben beeinflussen. Illustration: Daniel Frei

Daniel Frei – Wann und wie oft haben Sie sich in den vergangenen Tagen bewusst Zeit genommen, beispielsweise für ein Gespräch, ein Buch, ihre:n Partner:in oder Kinder, einen Gedanken? Und wann und wie oft haben Sie in den vergangenen Tagen «los schnäu …», «lueg schnäu …», «chunsch schnäu …», «wart schnäu …», «heb schnäu …», «chömer churz …», «chasch schnäu …» gesagt? Sprache ist nicht nur Werkzeug zur Kommunikation nach aussen, sondern nicht minder wirkungsvoll nach innen; sie formt grundlegend unsere Wahrnehmung der Welt und unseres Selbst, sie prägt unserer Realität. Mit Worten wie «schnell» und «kurz» konditionieren wir uns unbewusst auf ein Leben, das von Eile und Druck geprägt ist. Diese Konditionierung wird durch zahlreiche Studien untermauert. Beispielsweise hat eine Forschungsarbeit der Stanford University herausgefunden, dass Sprache, die Effizienz und Schnelligkeit betont, unsere Entscheidungsfindung und Problemlösungsfähigkeiten beeinflusst, oft zum Nachteil kreativer und tiefgründiger Denkprozesse.

Beispiel für die Macht der Konditionierung ist das Experiment mit dem Pawlowschen Hund, durchgeführt vom russischen Physiologen Iwan Pawlow Anfang des 20. Jahrhunderts. Pawlow zeigte, dass Hunde, die regelmässig gleichzeitig mit dem Klang einer Glocke gefüttert wurden, zu speicheln begannen, sobald sie die Glocke hörten – selbst wenn kein Futter präsentiert wurde. Dieses Phänomen, bekannt als klassische Konditionierung, verdeutlicht, wie äussere Reize mit bestimmten Reaktionen oder Verhaltensweisen verknüpft werden können. Nicht nur beim Hund. In unserem Kontext lässt sich eine Parallele ziehen: Durch den wiederholten Gebrauch von Worten wie «schnell» und «kurz» in unserem Alltag konditionieren wir uns unbewusst, ständig in Eile zu sein und schnelle Lösungen zu bevorzugen. Dies kann unsere Fähigkeit, innezuhalten und tiefergehende Gedanken zu entwickeln, einschränken, ähnlich wie die Hunde in Pawlows Experiment konditioniert wurden, auf einen bestimmten Reiz (Glocke) mit einer bestimmten Reaktion (Speichel) zu antworten, auch ohne das Vorhandensein des ursprünglichen Auslösers (Futter).

Die Tyrannei der Geschwindigkeit im Alltag

Unser Alltag ist durchdrungen von Momenten, in denen «schnell» und «kurz» unser Handeln bestimmen. Dies reicht von «schnellen» Gesprächen hin zu «kurzen» Pausen und der Frage, «hesch schnäu Zit?». Die Konsequenz ist, dass wir die Zeit stets als knapp und feindlich empfinden. Eine Studie des American Psychological Association zeigt, dass diese konstante Hetze zu einem Gefühl chronischer Zeitknappheit führt, was wiederum Stress und Unzufriedenheit verstärkt.

Die Studie der American Psychological Association untersucht eingehend die psychologischen und physiologischen Auswirkungen dieser wahrgenommenen Zeitknappheit. Sie stellt fest, dass der ständige Druck, schnell zu handeln und Entscheidungen zu treffen, nicht nur zu einer oberflächlichen Verarbeitung von Informationen führt, sondern auch unsere Fähigkeit zur tiefgründigen Reflexion und kreativen Problemlösung beeinträchtigt. Überdies zeigt die Studie, dass Menschen, die sich kontinuierlich unter Zeitdruck gesetzt fühlen, häufiger Symptome von Angst und Depression erleben. Dieser Zustand chronischer Eile beeinflusst auch unser soziales Verhalten: Er führt dazu, dass wir weniger Zeit für zwischenmenschliche Beziehungen aufbringen und uns in der Interaktion mit anderen gehetzt und ungeduldig verhalten.

Interessanterweise hebt die Studie hervor, dass dieses Empfinden von Zeitknappheit nicht notwendigerweise mit der tatsächlichen Menge an freier Zeit korreliert. Vielmehr ist es die Wahrnehmung und Bewertung der verfügbaren Zeit, die unser Stressniveau und unsere Zufriedenheit beeinflusst. Die Forscher betonen, dass das Bewusstsein für diesen psychologischen Mechanismus und ein bewusster Umgang mit unserer Zeit und Sprache Wege aufzeigen können, um dem Kreislauf der Hetze und des Zeitdrucks zu entkommen und ein ausgeglicheneres, erfüllteres Leben zu führen.

«Zeit habe ich nicht, Zeit nehme ich mir.»

Der Ausdruck «Zeit habe ich nicht, Zeit nehme ich mir» ist eine Erinnerung daran, dass unsere Zeitgestaltung eine Frage der Prioritätensetzung ist. Es geht nicht darum, Zeit «zu finden», sondern sie bewusst für das zu schaffen, was uns am Herzen liegt, uns wichtig ist. Der Philosoph Seneca schrieb in seinen Briefen an Lucilius: «Es ist nicht, dass wir wenig Zeit haben, sondern dass wir viel verlieren.» Dies betont, dass Zeit eine Ressource ist, die wir bewusst verwalten müssen.

Senecas Einsichten sind heute noch relevant. Er betont die Bedeutung der Selbstreflexion im Umgang mit unserer Zeit. Wir sollten uns fragen, wie oft wir uns von unwichtigen Dingen ablenken lassen oder Zeit mit Aktivitäten verschwenden, die uns nicht wirklich erfüllen. Indem wir unsere Aktivitäten und die ihnen zugewiesene Zeit kritisch hinterfragen, können wir erkennen, wo wir unsere Zeit ineffektiv nutzen.

Zudem lehrt Seneca, dass es nicht allein die Quantität der Zeit ist, die zählt, sondern ihre Qualität. Es geht darum, den Moment zu schätzen und ihn sinnvoll zu nutzen. Dies bedeutet, bewusste Entscheidungen darüber zu treffen, wie wir unsere Zeit verbringen, und Prioritäten zu setzen, die unsere Werte und Ziele widerspiegeln. Wir müssen lernen, Nein zu sagen zu Dingen, die uns nicht dienen, und Ja zu Dingen, die unser Leben bereichern.

Letztlich erinnert uns der Satz daran, dass Zeit eine der wenigen Ressourcen ist, die wir nicht erneuern können. Einmal verstrichen, ist sie unwiederbringlich verloren. Daher ist es entscheidend, dass wir bewusst wählen, wie wir unsere Zeit verbringen.

Der Preis der Geschwindigkeit

Die unerbittliche Eile und der Mangel an Achtsamkeit wirken sich nicht nur auf unser inneres Wohlbefinden aus, sondern auch auf unsere Beziehungen zu anderen. In einer Studie der Harvard University wurde festgestellt, dass Menschen in schneller getakteten Gesellschaften oft geringere soziale Bindungen und ein höheres Mass an Einsamkeit aufweisen. Dies zeigt, wie die Betonung von Schnelligkeit zu sozialer Entfremdung und einem Mangel an tiefgehenden zwischenmenschlichen Verbindungen führen kann.

Die Studie von Harvard untersuchte die Auswirkungen der Geschwindigkeit des modernen Lebens auf soziale Beziehungen in verschiedenen Gesellschaften weltweit. Es wurde festgestellt, dass in Gesellschaften, in denen ein schnelles Lebenstempo und ständige Erreichbarkeit betont werden, Menschen weniger Zeit für persönliche Interaktionen und den Aufbau tieferer Beziehungen aufbringen. Dies führt oft zu einer Oberflächlichkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen, wobei schnelle, effiziente Kommunikationsformen wie Textnachrichten oder E-Mails tiefere, persönliche Gespräche ersetzen.

Interessanterweise zeigte die Studie auch, dass diese Entwicklung nicht nur die persönlichen Beziehungen beeinträchtigt, sondern auch Auswirkungen auf die Gemeinschaft als Ganzes hat. In schnelllebigen Gesellschaften sind Menschen weniger geneigt, sich in der Gemeinschaft zu engagieren, was zu einer geringeren sozialen Kohäsion und einem geschwächten Gemeinschaftsgefühl führen kann.

Die Forscher betonen die Bedeutung der Achtsamkeit und des bewussten Verlangsamens als Gegenmassnahme. Sie empfehlen, bewusst Pausen einzulegen, sich Zeit für echte zwischenmenschliche Begegnungen zu nehmen und das Lebenstempo zu drosseln, um die Qualität der Beziehungen und das Gefühl der Verbundenheit zu verbessern. Durch bewusste Entscheidungen im Umgang mit unserer Zeit und Priorisierung von qualitativen, tiefgehenden Interaktionen können wir dem Trend zur Oberflächlichkeit und Isolation entgegenwirken und ein erfüllteres, verbundeneres Leben führen.

Ein Plädoyer für mehr Zeit, Absicht und Achtsamkeit

Was tun? Können wir lernen, unsere Sprache und Handlungen bewusst zu wählen, indem wir die Fähigkeit entwickeln, Nein zu sagen? Dies ist mehr als eine semantische Verschiebung; es ist ein Appell für eine tiefgreifende Veränderung in unserer Lebensführung. Der Psychologe Carl Jung bemerkte einmal, dass «Eile nicht vom Teufel ist, sie ist der Teufel.» Dies unterstreicht die Notwendigkeit, unser Tempo zu verlangsamen und bewusster zu leben, unsere Grenzen zu akzeptieren. Ein bewussterer Umgang mit Zeit führt zu einer tieferen Selbstwahrnehmung und inneren Ruhe.

Es ist entscheidend, dass wir die Kunst des Nein-Sagens erlernen und anwenden, besonders im Bewusstsein unserer eigenen Grenzen. Indem wir lernen, Anforderungen abzulehnen, die uns überfordern oder unsere Zeit unangemessen beanspruchen, gewinnen wir die Kontrolle über unser Leben zurück. Dies fördert nicht nur unsere eigene Gesundheit und unser Wohlbefinden, sondern ermöglicht uns auch, präsenter und engagierter in den Momenten zu sein, die wir bewusst wählen. Es ist ein Akt der Selbstfürsorge und ein Schritt hin zu einem achtsameren Dasein. Indem wir uns die Erlaubnis geben, unsere eigenen Bedürfnisse zu priorisieren, öffnen wir den Weg für ein erfüllteres und ausgeglicheneres Leben.

Forschungen an der University of Massachusetts haben gezeigt, dass Achtsamkeitsmeditation zu signifikanten Verbesserungen in der mentalen Gesundheit führen kann, einschliesslich einer Verringerung von Stress und Angst. Dies unterstreicht die Bedeutung, sich Zeit für Selbstreflexion und innere Ruhe zu nehmen. Achtsamer Umgang mit Zeit ermöglicht es uns, tiefe und bedeutungsvolle Beziehungen aufzubauen. Eine Studie der University of California fand heraus, dass Menschen, die sich bewusst Zeit für zwischenmenschliche Beziehungen nehmen, höhere Zufriedenheitswerte in ihren sozialen Verbindungen aufweisen. Dies zeigt, wie wertvoll es ist, Zeit bewusst für unsere Mitmenschen zu nutzen.

Ein Aufruf zur Neugestaltung unserer Zeit

Es ist essenziell, dass wir die Worte «schnell» und «kurz» durch bewusstere Alternativen ersetzen. Dies ist ein Aufruf zu einer Neugestaltung unserer Lebensweise. Der Philosoph Henry David Thoreau schrieb in «Walden»: «Es ist nicht genug, beschäftigt zu sein; so sind auch die Ameisen. Die Frage ist: Womit sind wir beschäftigt?» Diese Worte erinnern uns daran, dass es wichtig ist, unsere Zeit mit Bedacht und Absicht zu nutzen. Es wird deutlich, dass die Art und Weise, wie wir über Zeit sprechen und sie nutzen, weitreichende Auswirkungen auf unser persönliches Wohlbefinden und unsere sozialen Beziehungen hat. Es ist an der Zeit, ein neues Verhältnis zur Zeit zu schaffen, das auf Achtsamkeit, Bedeutung und bewusster Präsenz basiert. Thoreaus Betonung auf Qualität statt Quantität der Beschäftigung ist heute relevanter denn je. Er fordert uns auf, innezuhalten und zu überdenken, wie wir unsere Zeit verbringen. Es geht darum, Aktivitäten zu wählen, die uns nicht nur beschäftigen, sondern die uns erfüllen und bereichern.

Ebenso sollten wir die Art und Weise, wie wir Zeit wahrnehmen und darüber sprechen, überdenken. Statt ständig nach Schnelligkeit und Effizienz zu streben, sollten wir lernen, die Momente zu schätzen und uns Zeit für Dinge zu nehmen, die wirklich zählen. Dies könnte bedeuten, bewusster zu kommunizieren, längere und tiefere Gespräche zu führen und uns Zeit für Reflexion und Entspannung zu gönnen. Thoreaus Philosophie lädt uns ein dazu, unsere Beziehung zur Natur und zur Stille neu zu bewerten. In «Walden» reflektiert er über die Vorteile, sich von der hektischen Welt zurückzuziehen und in der Natur Ruhe zu finden. Dies kann uns helfen, unsere Gedanken zu ordnen, Stress abzubauen und eine tiefere Verbindung zu uns selbst und unserer Umwelt herzustellen.

Letztlich geht es darum, ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem, was getan werden muss, und dem, was uns Freude und Sinn bringt. Ein bewussterer Umgang mit unserer Zeit und die Priorisierung von bedeutungsvollen Aktivitäten und Beziehungen können uns zu einem erfüllteren und ausgeglicheneren Leben führen.