Happy Birthday, Heidi: Zum Todestag von Johanna Spyri (und dem langen Leben ihrer Heldin)
Zum Todestag von Johanna Spyri feiern wir nicht nur eine Autorin, sondern einen Mythos: Heidi. Das Bergmädchen wurde zur Projektionsfläche einer idealisierten Schweiz – naturverbunden, rein, heimatlich. Was einst als Trost gedacht war, wurde zur kulturellen Last. Heute, inmitten von Klimakrise, Identitätssuche und gesellschaftlicher Zersplitterung, braucht die Schweiz neue Geschichten. Ist der nächste Mythos vielleicht keiner mehr – sondern eine gemeinsame Haltung?
Daniel Frei – Die Erfinderin eines Mythos: Am 12. Juni 2025 jährt sich der Todestag von Johanna Spyri. Die Zürcherin aber, geboren 1827, gestorben 1901, lebt weiter – nicht in Denkmälern oder Gedenkfeiern, in ihrer Figur: Heidi. Das kleine Mädchen aus den Bergen, das in der Abgeschiedenheit der Alpen bei ihrem kauzigen Grossvater wohnt, ist zu einem der bekanntesten literarischen Exportschlager der Schweiz geworden. Mehr noch: Heidi ist Symbol geworden. Für die heile Welt. Für Unschuld. Für Alpenidyll, Menschlichkeit, Naturverbundenheit und Heimat.
Aber was hat Johanna Spyri eigentlich geschaffen – und wie wirkt das Bild, das sie zeichnete, bis heute nach? Hat es sich überlebt, ist es uns peinlich geworden, hinderlich? Oder liegt gerade in seiner Einfachheit eine tiefe Wahrheit, die wir neu entdecken können?
Eine Schweiz, wie sie sein sollte
«Ich will schreiben für Kinder, die sich noch freuen können an Bergblumen, an der Sonne, am Rauschen der Tannen.» So oder ähnlich war der Ton von Johanna Spyris Schreiben. Sie war keine Revolutionärin. Keine Aufklärerin im modernen Sinn. Und doch war ihre Heidi ein stiller, aber kraftvoller Protest gegen die frühe Industrialisierung, gegen Entfremdung und Stadtmief. In einem Zeitalter, in dem immer mehr Menschen in die Städte zogen, schickte Spyri ihre Heldin genau in die andere Richtung: zurück zur Natur, zu den Ziegen, zum frischen Brot und zum Gesang.
Heidi war und ist mehr als ein Kind. Sie ist Projektionsfläche. Für eine Schweiz, wie sie sein sollte: naturverbunden, schlicht, gesund, ehrlich. Nicht zufällig ist Heidi in Japan ein Star – dort, wo man nach einem «Sehnsuchtsort» sucht, nach einem Gegenentwurf zur totalen Durchdigitalisierung. Heidi ist die Schweiz in ihrer pastoralsten, idealisiertesten Form. Ein Denkmal aus Butter, Holz und Heu. Und das hat funktioniert: in mehr als 50 Sprachen übersetzt, Dutzende Male verfilmt, vermarktet, ikonisiert.
Von der sanften Lüge zur kulturellen Last
Und doch ist da ein Schatten. Denn das Bild, das Heidi in der Welt von der Schweiz verbreitete, war nie ganz wahr. Es war eine Möglichkeit, ein Ideal – aber kein Abbild. Der «Alpöhi» war kein Repräsentant der schweizerischen Gesellschaft. Und Heidis Heimattreue wurde zur Kitschfolie für patriotische Verklärung. Spätestens mit dem Tourismusboom des 20. Jahrhunderts wurde Heidi zur Marke degradiert: ein liebes Mädchen in Tracht, das aus Holzfenstern winkt, während im Hintergrund die Berge glitzern und die Käseglocke bimmelt.
Was als literarischer Trost begann – denn Johanna Spyri selbst hatte viel Leid erlebt – wurde zur kulturellen Last. Die Schweiz, wie sie sich im Ausland gerne sah, wurde auf eine Alp reduziert. Und mit ihr auch die Vorstellung von Schweizerinnen und Schweizern: brav, fleissig, sittsam, natürlich, heimatverbunden. Kein Platz für Widerspruch, Migration, urbane Komplexität, politischen Diskurs. Heidi war ein nettes Aushängeschild. Aber eines, das bald nicht mehr alles repräsentieren konnte.
Zwischen Gletscher und Globi
Heute steht die Schweiz an einem anderen Punkt. Sie ist längst nicht mehr das abgeschiedene Alpenland, das sie zur Zeit Spyris war. Sie ist digitalisiert, vernetzt, globalisiert, agglomeralisiert – und gleichzeitig in sich gespalten. Die Gräben zwischen Stadt und Land, zwischen denen oben und denen unten, zwischen progressivem Selbstbild und konservativer DNA, zwischen der französischen und der deutschen Schweiz sind real. Der Mythos Heidi, so warm er auch sein mag, taugt nur noch als Fragment. Als Erinnerung. Als Zitat. Nicht mehr als Leitschnur.
«Do chöme me hei» – das Gefühl, nach Hause zu kommen, wie es Heidi im Buch erlebt, hat sich verwandelt. Heimat ist nicht mehr Ort, sondern Haltung. Nicht mehr Alpen, sondern Aushandlung. Wir leben in einer Schweiz, in der wir uns fragen, was uns verbindet, wenn die Gletscher schmelzen, die Glocken verstummen und nur noch das Raclette die Volksseele wärmt.
Ein neuer Mythos für ein neues Land
Nach Wilhelm Tell, der für Freiheit und Widerstand, und Heidi, die für Heimat und Herzlichkeit steht – was nun? Was ist unser nächster nationaler Mythos? Nicht nur Globi ging schon konkurs. Wer erzählt das neue Narrativ für eine Schweiz, die plural ist, ökologisch herausgefordert, wirtschaftlich stabil, aber seelisch müde?
Vielleicht brauchen wir keine Heldinnen und Helden mehr mit Namen. Vielleicht ist der neue Mythos ein kollektiver. Einer der Verantwortung. Der Fähigkeit, Unterschiede zu halten. Der Kunst, still zu sein in einer lauten Welt. Der Bereitschaft, Wandel nicht nur zu akzeptieren, sondern aktiv zu gestalten. Oder wie es Johanna Spyri selbst einmal schrieb: «Was einer aus sich machen kann, das ist das Beste, was ihm gegeben ist.»
Vielleicht ist das unser neuer Mythos: nicht das Bild der Schweiz – sondern unsere Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden. Ohne dabei zu vergessen, woher wir kommen.
Happy Birthday, Heidi. Und danke, Frau Spyri!