Kultur durch Kultivierung: Warum das scheinbar Kleine alles verändert
Ob in Unternehmen, Spitälern, Verwaltungen oder Start-ups: Wenn von «Kulturwandel» die Rede ist, geht es oft um Strategien, Werte-Workshops und zugegebenermassen schön formulierte Visionen. Aber echte Kulturveränderung beginnt nicht auf Papier – sondern im Alltag. In den kleinen, unscheinbaren Momenten: Ein gemeintes «Danke», ein zugewandter Blick, ein kluges Schweigen. Kultur zeigt sich nicht im Organigramm, sondern im Miteinander. Wer sie ernsthaft verändern will, muss sie kultivieren – geduldig, bewusst, konsequent. Warum die informelle Kommunikation, die feinen Signale im Zwischenmenschlichen, mehr bewirken als jede Change-Massnahme – und wie Führungspersonen durch Vorleben statt Vorschreiben den grössten Hebel in der Hand halten. Ein Text über Haltung, Resonanz und die stille Kraft der kleinen Geste.
Kultur ist kein Dokument. Sie ist ein Klima. Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Kultur wird wie ein grosses Wort behandelt – schwer, bedeutungsvoll, komplex. Dabei beginnt sie im Klein(st)en. In einem Gespräch am Kopierer. In einem «Danke» zur rechten Zeit. In der Entscheidung, ob man in der Hektik des Alltags kurz innehält oder einfach weitermacht.
Wer Kultur verändern will, sucht oft nach Strategien, nach Konzepten, nach Modellen. Aber vielleicht liegt der wirksamste Hebel gar nicht in der Veränderung – sondern in der Kultivierung. In der geduldigen, bewussten Pflege dessen, was ohnehin da ist: zwischen den Menschen, in ihren Beziehungen, in ihren Worten. Bevor wir Kultur transformieren, sollten wir sie beobachten. Und bevor wir sie planen, sollten wir sie spüren.
Kultur ist kein Dokument. Sie ist ein Klima.
In Organisationen wird oft über Kultur gesprochen, als wäre sie ein Zustand, der sich beschreiben, planen und verordnen liesse. Man formuliert fleissig Leitbilder, hängt Werte an Wände, versendet interne Newsletter mit schön klingenden Mission-Statements. Und doch: All das bleibt oft seltsam folgenlos.
Warum? Weil Kultur nicht in den Worten lebt, die wir aufschreiben – sondern in den Gesten, die wir täglich machen. Nicht in der PowerPoint-Folie über «unsere Werte», sondern im Blick, mit dem eine Führungsperson eine kritische Frage beantwortet.
Kultur ist kein Dokument. Sie ist ein Klima – spürbar, aber nicht sichtbar. Und sie entsteht nicht durch Dekrete, sondern durch Kultivierung.
Das Unsichtbare prägt das Ganze
Was wirklich wirkt, geschieht zwischen den Zeilen. In der Art, wie wir jemanden begrüssen. In der Bereitschaft, zuzuhören. In der Frage, ob jemand beim Meeting zu Wort kommt oder übergangen wird. In der E-Mail, die wir nicht abschicken, weil wir merken, dass der Ton daneben ist. Diese alltäglichen, scheinbar banalen Entscheidungen sind es, die Kultur prägen. Sie wirken wie kleine Tropfen auf einen Stein – unscheinbar, aber stetig. Und genau diese Tropfen verändern langfristig die Oberfläche.
Viele Organisationen unterschätzen diese Dimension. Sie glauben, mit einem grossen Workshop zur «Kulturtransformation» sei es getan. Doch der eigentliche Wandel geschieht nicht im Workshop, sondern in der Kaffeeküche, im Umgang mit Fehlern, im Lächeln, das ehrlich ist – oder eben nicht.
Kultivierung statt Kontrolle
Kultur lässt sich nicht erzwingen. Aber sie lässt sich kultivieren. Der Unterschied ist entscheidend. Kontrolle versucht, Verhalten zu normieren. Kultivierung dagegen bedeutet, Bedingungen zu schaffen, in denen erwünschtes Verhalten organisch entstehen kann. Wie ein Mensch am Gärtnern, der nicht am Gras zieht, sondern den Boden verbessert, das Wasser reguliert, für Licht sorgt. So wächst Kultur: durch ein Umfeld, das Haltung belohnt, nicht nur Leistung.
Kultivierung beginnt bei uns selbst. Wenn wir Respekt zeigen, auch wenn niemand zuschaut. Wenn wir Fehler eingestehen, auch wenn es unbequem ist. Wenn wir anderen Raum geben, auch wenn wir selbst etwas sagen wollen.
Wer eine andere Kultur will, muss sie im Kleinen vorleben – jeden Tag, ohne grosse Bühne.
Kulturradar Sprache
Ein besonders sensibles Messinstrument für Kultur ist die Sprache. Nicht die offizielle in Memos und Reden – sondern die gelebte im Alltag. Wie reden wir mit- oder übereinander? Wie reden wir über Abwesende? Wie über die Mitbewerbenden, die Kundinnen und Kunden? Wie wird Kritik formuliert? Gibt es Humor, der verbindet – oder Spott, der ausgrenzt?
Sprache ist ein Resonanzraum für Kultur. Sie zeigt, was erlaubt ist – und was nicht. Und sie verändert das Klima schleichend: Eine Organisation, in der Menschen wertschätzend, offen und präzise sprechen, wird eine andere Kultur entwickeln als eine, in der zynische Bemerkungen und halbherzige Aussagen den Ton angeben.
Es lohnt sich, auf die Sprache zu achten – nicht als Kontrollinstrument, sondern als Resonanzkörper: Was ist sagbar? Was wird gehört? Wer wird gehört? Und was macht das mit dem gemeinsamen Denken?
Mikro statt Makro: Die Kraft der kleinen Intervention
Der grosse Hebel liegt im Kleinen. Eine neue Regel verändert wenig – eine neue Geste dagegen kann ein ganzes Team beeinflussen. Wenn eine Führungsperson offen über eigene Unsicherheit spricht, schafft sie einen Raum, in dem auch andere sich zeigen dürfen. Wenn jemand im Meeting bewusst eine stille Stimme einlädt, sendet das ein Signal an alle. Wenn eine projektverantwortliche Person nachfragt, wie es einem Menschen geht – nicht nur dem Projekt –, verändert sich das Beziehungsklima.
Diese Mikrointerventionen sind nicht spektakulär. Sie brauchen keine Budgets, keine Tools, keine Change-Architektur. Und sie haben eine gewaltige Wirkung, weil sie das Gewohnte unterbrechen und damit das Mögliche erweitern.
Vorleben statt Vorschreiben
Die vielleicht wirksamste Form der Kultivierung ist das Vorleben. Nicht als Heldenpose, als konsequente Haltung: Ich tue, was ich sage. Ich bin, was ich verlange. Ich kultiviere, was ich erwarte – durch mein eigenes Tun. Diese Form der Kohärenz ist selten. Aber sie ist magnetisch.
Menschen orientieren sich nicht an Slogans, sondern an Verhalten. Nicht an Werten, sondern an Vorbildern. Wer in der Lage ist, im Alltag das zu leben, was auf dem Papier steht, braucht keine Kulturarbeit – er oder sie ist bereits mittendrin.
Kultur sind Sie
Organisationskultur ist nichts Abstraktes. Sie ist konkret, lebendig, spürbar – und sie beginnt bei und mit Ihnen. In Ihrem Blick. Ihrer Stimme. Ihrer Haltung. Wenn Sie Kultur verändern wollen, müssen Sie das System nicht revolutionieren. Sie müssen kultivieren: achtsam, konsequent, mutig. Jeden Tag ein wenig. Und mit der tiefen Gewissheit: Das Kleine ist nicht nebensächlich. Es ist das Entscheidende.
Kultur entsteht nicht durch Veränderung. Sondern durch Kultivierung. Das ist viel schwieriger – und auch viel schöner.
The Empty Leader
Räume statt Rezepte
«The Empty Leader» ist ein Raum aus 50 Thesen – und ein Retreat in den Bergen, wo wir diese Räume betreten.
Nicht, um alles zu klären. Sondern um klarer zu sehen, was ungeklärt bleiben darf.
Wenn Sie spüren, dass Führung mehr sein kann als Zuständigkeit, mehr Bewegung als Besitz – dann folgen Sie dem Ruf und entdecken Sie den ganzen Weg:
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The Empty Leader
50 Thesen, Essays, Retreats
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