Nein, ich möchte nicht geduzt werden
Das «Du» hat Hochkonjunktur. Es begegnet uns überall: in Geschäften, auf Plakaten, in Werbeanzeigen und selbst in der Kommunikation mit wildfremden Menschen. Es scheint, als habe das höfliche «Sie» – einst Synonym für Respekt und Würde – ausgedient. Was auf den ersten Blick modern und leger erscheinen mag, ist für viele eine Anbiederung, Unsitte, eine Grenze, die nicht leichtfertig überschritten werden sollte. Und nein, ich möchte nicht geduzt werden.
Das «Du» hat Hochkonjunktur: Was auf den ersten Blick modern und leger erscheinen mag, ist für viele eine Anbiederung, Unsitte, eine Grenze, die nicht leichtfertig überschritten werden sollte. Fotografie: Daniel Frei
Daniel Frei – Das «Sie» etwas Kostbares: Distanz. Keine kalte, abweisende Distanz, sondern eine höfliche, respektvolle. Es signalisiert: Ich kenne Sie nicht, aber ich respektiere Sie. Das «Sie» ist ein Angebot, sich auf Augenhöhe zu begegnen, ohne vorzugeben, vertraut zu sein. Es schafft Raum, in dem Fremde sich begegnen können, ohne sich aufzudrängen. Der Philosoph Richard David Precht brachte es auf den Punkt: «Die Wahl zwischen «Sie» und «Du» ist eine Wahl zwischen Distanz und Vertrautheit. Das «Sie» ermöglicht Respekt ohne Vertraulichkeit, das «Du» fordert Vertraulichkeit ein, ohne sie zu gewähren.»
Eine falsche Nähe: Das «Du» als Anbiederung
Das ungefragte Duzen ist oft nichts anderes als eine Anmassung. Es tut so, als wären wir uns nah, obwohl wir uns nicht einmal kennen. Besonders störend wird dies im Kontext von Dienstleistungen: Wenn mich mir wildfremdes Verkaufspersonal duzt, fühle ich mich nicht ernst genommen, ich nehme es als übergriffig wahr. Es entsteht der Eindruck, dass meine Individualität hinter einer vermeintlich modernen Strategie verschwindet.
Hier ist das «Du» nicht Ausdruck von Lockerheit, sondern von Beliebigkeit. Es banalisiert die Interaktion und raubt ihr den Respekt. Der Soziologe Erving Goffman betonte, dass die Art, wie wir andere ansprechen, unser Verständnis von Nähe und Machtverhältnissen spiegelt. Das erzwungene «Du» gleicht einer Nivellierung: Alle sollen gleich sein – ob sie es wollen oder nicht.
Abgrenzung und Selbstbestimmung
«Wer bin ich, dass ich entscheiden dürfte, wie ich angeredet werde?» Diese Frage stellt sich im Alltag viel zu selten. Dabei ist sie zentral, denn Sprache ist Macht. Durch das Duzen wird mir ein Teil meiner Selbstbestimmung genommen. Die höfliche Anrede ist mehr als eine Floskel – sie ist eine Anerkennung meiner Person. Besonders in einer Zeit, in der Individualität so grossgeschrieben wird, sollte es selbstverständlich sein, auch individuelle Grenzen zu respektieren.
Höflichkeit und Respekt vor dem Alter
Die Höflichkeitsform «Sie» hat zudem eine weitere wichtige Funktion: Sie zeigt Respekt vor der Erfahrung und dem Alter des Gegenübers. Das Duzen hingegen ignoriert diese Dimension. Es ist nicht nur respektlos, sondern auch entwaffnend: Ältere Menschen werden ihrer Würde beraubt, wenn sie von wildfremden, oft deutlich jüngeren Menschen ungefragt geduzt werden. Es entsteht eine Ungleichheit, die paradoxerweise das Gegenteil von dem erreicht, was das Duzen angeblich bewirken soll. Wie treffend formulierte es der Schriftsteller Martin Walser: «Das «Sie» ist keine Distanz, sondern eine Brücke. Es lässt den anderen Mensch sein, bevor er mein Freund wird.»
Weder cool, noch uncool: Die Debatte um das «Du»
Das «Sie» abzulehnen, weil es angeblich verstaubt sei, ist eine unreflektierte Haltung. Es geht nicht um Coolness oder Spiessigkeit, sondern um die Frage: Wie wollen wir einander begegnen? Wenn ich das «Sie» einfordere, werde ich oft zähneknirschend belächelt, als sei ich altmodisch. Doch das «Du» ist keineswegs der Heilsbringer, für den es verkauft wird. Es ist vielmehr Ausdruck einer Gesellschaft, die wahre Nähe mit schneller Verfügbarkeit verwechselt.
Eine Bitte: Lassen Sie mir meine Würde
Sprache ist Beziehung. Sie formt, wie wir miteinander umgehen, und erlaubt uns, das Gegenüber zu ehren. Deshalb bitte ich Sie: Lassen Sie mir meine Würde. Wenn wir uns nicht kennen, sprechen Sie mich mit «Sie» an. Seien wir höflich zueinander. Vielleicht kommen wir dann eines Tages an den Punkt, an dem das «Du» ganz natürlich entsteht – aus Respekt und Sympathie, nicht aus einer aufgezwungenen Beliebigkeit.
Quellen
Precht, Richard David: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Goldmann Verlag, 2007.
Goffman, Erving: Interaction Ritual: Essays on Face-to-Face Behavior. Pantheon Books, 1967.
Walser, Martin: Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 2009.