Nicht fliehen, nicht spotten, nicht schweigen, lieben: Warum Amor Mundi heute mehr ist als ein schöner Gedanke

Die Welt zu lieben – klingt pathetisch, ist aber revolutionär. Wer heute von Zärtlichkeit spricht, wirkt schnell mindestens naiv. Und doch: Amor Mundi, die Liebe zur Welt, ist kein romantisches Gefühl, sondern eine gesellschaftspolitische Haltung. Eine Entscheidung gegen Zynismus. Gegen Rückzug. Gegen Gleichgültigkeit. Nicht weniger als ein Kompass. Für alle, die bleiben wollen – und gestalten.

Amor Mundi: Die Welt zu lieben – klingt pathetisch, ist aber revolutionär. Künstler:in unbekannt. Fotografie Daniel Frei

Amor Mundi: Die Welt zu lieben – klingt pathetisch, ist aber revolutionär. Künstler:in unbekannt. Fotografie Daniel Frei

Daniel Frei – Es gibt Haltungen, die wirken auf den ersten Blick wie Schwäche. Wer beispielsweise von Liebe spricht – zur Welt, zu Menschen, zur Gesellschaft –, riskiert mindestens belächelt zu werden. Zu viel ist gesagt worden. Zu wenig ist eingehalten worden. Die Welt scheint rauer, unbarmherziger, fragmentierter. Wer kann es sich da leisten, noch von Zärtlichkeit, von Hoffnung, von Verbundenheit zu sprechen?

Und doch liegt darin unsere Aufgabe. Amor Mundi – die Liebe zur Welt – vielleicht die schwierigste aller Lieben. Aber sie ist nicht naiv. Sie ist eine ethische, gesellschaftliche und existenzielle Notwendigkeit. Und sie ist notwendiger denn je.

Die Liebe zur Welt beginnt dort, wo die Welt aufhört, liebenswert zu sein

Es ist einfach, die Welt zu kritisieren, schreibend aus eigener Erfahrung. Es ist einfach, sich zurückzuziehen, zynisch zu werden, die Hände in den Schoss zu legen und zu sagen: «Es hat ja doch keinen Sinn.» Zynismus schützt, ja. Aber er schützt nicht die Welt. Er schützt nur unser verletztes Idealbild von ihr.

Amor Mundi beginnt dort, wo dieser Schutz aufhört. Dort, wo wir bereit sind, die Welt anzunehmen, wie sie ist – in ihrer Schönheit wie in ihrer Brutalität. Es geht nicht darum, alles gut zu finden. Es geht darum, nicht wegzuschauen. Wer die Welt liebt, will sie gestalten. Nicht verlassen.

Hannah Arendt und die Zumutung der Zuwendung

Die Philosophin Hannah Arendt hat den Begriff «Amor Mundi» nicht erfunden, aber sie hat ihm seine heutige Tiefe gegeben. Für sie war Weltliebe keine romantische Geste, sondern eine gesellschaftspolitische Haltung. In einem Brief schrieb sie: «Amor Mundi – das ist vielleicht die schwierigste aller Aufgaben: die Welt zu lieben, trotz allem, was sie ist.»

In dieser Perspektive wird klar: Es geht nicht um ein warmes Gefühl, sondern um eine grundsätzliche Bereitschaft. Die Bereitschaft, in der Welt zu bleiben, statt sie zu verlassen. Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, statt Schuld zu verteilen. Die Bereitschaft, nicht zu resignieren, sondern zu handeln.

Gegen das kalte Herz unserer Zeit

Unsere Zeit neigt zum Rückzug. In Ironie, in digitale Parallelwelten, in Selbstoptimierung. Die Versuchung ist gross, sich der Welt nur noch kommentierend zu nähern – mit scharfem Verstand, aber ohne Berührung. Doch die grossen Krisen unserer Zeit – Klimawandel, soziale Spaltung, Entfremdung – werden nicht durch Spott gelöst. Sie fordern etwas anderes: Nähe. Berührung. Beteiligung.

Amor Mundi heisst, das kalte Herz zu verweigern. Heisst, nicht abzustumpfen. Heisst, sich nicht an die eigene Ohnmacht zu gewöhnen. Es ist eine Form von innerer Aufrichtigkeit, die sagt: Ich will nicht zusehen. Ich will beitragen. Selbst wenn ich nicht weiss, ob es genügt.

Weltliebe ist keine Flucht – sie ist Widerstand

Liebe zur Welt ist kein Eskapismus. Im Gegenteil. Sie ist die Absage an Eskapismus. Sie ist Entschluss, nicht in der Abwertung zu verharren. Nicht im Jammern. Nicht im Rückzug ins Private.

Weltliebe bedeutet, sich der Wirklichkeit auszusetzen – mit offenem Herzen, klarem Blick und dem Wissen, dass nichts sicher ist. Diese Unsicherheit ist keine Schwäche. Sie ist der Raum, in dem Freiheit beginnt. Nur wer nicht alles kontrollieren muss, kann Verantwortung wirklich übernehmen.

Eine Haltung für das 21. Jahrhundert

In einer Zeit, in der politische Sicherheiten und Systeme zerfallen, in der Algorithmen, Echokammern und künstliche Intelligenzen uns die Wirklichkeit verzerren, in der Klimakrisen ganze Lebensgrundlagen und Regionen infrage stellen, wirkt Amor Mundi fast anachronistisch. Und genau deshalb ist sie so radikal.

Die Liebe zur Welt ist heute kein Gefühl mehr, das man einfach hat. Sie ist eine Haltung, die man einnimmt. Sie verlangt, dass wir uns nicht nur um unser eigenes Leben kümmern, sondern auch um das gemeinsame. Dass wir nicht nur fragen, was funktioniert, sondern auch, was richtig ist.

Die Welt und die Frage nach dem Bleiben

Es stellen sich die Fragen besonders scharf: Bleiben oder gehen? Schauen oder weggucken? Verantwortung übernehmen – oder sich einrichten.

Amor Mundi könnte genau hier anfangen: im Konkreten, im Lokalen, im Nahen. Wer seinen Ort liebt, liebt die Welt. Wer sich um das Kleine kümmert, übernimmt Verantwortung für das Grosse. Es braucht keine Heldentaten. Es braucht Zuwendung.

Nicht fliehen, nicht spotten, nicht schweigen: lieben.

Dieser Satz ist kein moralischer Appell. Er ist eine Erinnerung. Eine Erinnerung an das, was möglich wird, wenn wir uns der Welt nicht entziehen. Wenn wir die Verbindung nicht kappen. Wenn wir begreifen: Wir sind Teil von ihr. Und sie ist Teil von uns.

Amor Mundi ist kein Leitspruch für Idealisten. Es ist ein Kompass für Realisten mit Hoffnung. Menschen, die wissen, wie kaputt diese Welt sein kann – und sie trotzdem lieben. Nicht, weil sie perfekt ist. Sondern, weil sie lebendig ist. Und weil wir sie mitgestalten können.