Streetparade, Weihnachten, Fasnacht: Ausnahmen im Abo-Modell
Streetparade in Zürich, Fasnacht in Basel, Weihnachten im Wohnzimmer: Auf den ersten Blick haben sie nichts miteinander gemein. Hier dröhnt Techno aus Lautsprechertürmen, dort pauken Trommeln und unterhalten Schnitzelbänke, anderswo läuten Kirchenglocken. Doch sie alle teilen ein geheimes Versprechen: Für eine begrenzte Zeit dürfen wir jemand anders sein. Wir dürfen laut, schräg, sentimental, hemmungslos werden – ohne Konsequenzen, mit gesellschaftlicher Absolution. Der paradoxe Luxus unserer Kultur, dass wir das Ausflippen in den Kalender eintragen, damit es uns nicht völlig überrumpelt.
Daniel Frei – Wir sind eine Gesellschaft, die Ausnahmen nur im Abo-Modell akzeptiert. Fasnacht, Streetparade, Weihnachten: Es beginnt und endet pünktlich. Die anarchische Energie hat eine Eröffnungsrede und ein Bühnenprogramm. Der Kontrollverlust läuft nach Sicherheitskonzept. Das klingt nach Widerspruch, ist aber unser Schutzschild. Der wahre, unvorhersehbare Kontrollverlust würde uns aus der Bahn werfen. Lieber packen wir ihn in ein Kostüm, kontrollieren ihn mit Drogen und verkaufen ihn als Volksfest; Ausnahmezustand auf Knopfdruck.
Rolle vorwärts
Das Kostüm ist die Eintrittskarte in eine Parallelwelt. Wer sonst Excel-Tabellen pflegt, steht plötzlich mit Glitzer im Haar auf einem Lautsprecherwagen. Die stille Kollegin im Büro wird zur trommelnden Teufelin im Umzug. Der Familienvater verwandelt sich in einen tanzenden Flamingo mit LED-Flügeln. Es sind nicht Lügen, sondern Offenbarungen. Wir sind alle mehr als eine Version von uns selbst – nur müssen wir uns manchmal verstecken, um uns zu zeigen.
Weihnachten, ein unterschätzter Maskenball
Niemand denkt bei Weihnachten an Masken. Doch was sind Rentierpullis, Christbaumdeko und künstlicher Schnee anderes als Kostüme für uns, unsere Wohnungen? Wir verkleiden unser Zuhause als Postkartenidylle, wir verkleiden uns als harmonische Familienmitglieder, wir inszenieren eine Welt, in der es keine Rechnungen, keine Krankheiten, keine Meinungsverschiedenheiten gibt – zumindest bis der Braten fertig ist. Es ist eine Maskerade in Zeitlupe.
Die Funktion der Absurdität
Dass wir uns terminiert so hemmungslos ins Absurde begeben, Schaumkanonen, Narrenkappen, blinkende Weihnachtsmützen, ist kein Zufall, allenfalls zufallend. Absurdität ist ein Überdruckventil. Sie erlaubt uns, uns selbst nicht ganz ernst zu nehmen. Ein Mensch, der sich nie lächerlich macht, wird irgendwann gefährlich: Er glaubt, er sei die Rolle, die er spielt. Die Absurdität schiebt einen Spiegel zwischen uns und unser Selbstbild.
Historische Wurzeln des Wahnsinns
Schon im alten Rom gab es die Saturnalien – eine Woche, in der Sklaven Herren spielen durften, Regeln aufgehoben wurden, und das Essen kein Ende nahm. Im Mittelalter war es der Narr, der als Einziger den König kritisieren durfte. Diese Umkehrungen der Ordnung waren keine Gefahr für das System – sie waren sein Stabilisator. Sie erinnerten daran, dass die Welt auch anders sein könnte. Nach der Party kehrte man zurück in die Ordnung. Fühlte sie sich etwas leichter, (er)tragbarer an?
Das kontrollierte Beben
Die Streetparade ist eine Art erdbebensichere Revolution. Alles wackelt und nichts stürzt ein. Die Bässe treiben uns aus der Normalität und wir wissen: Morgen ist die Stadt wieder sauber. Das gleiche Prinzip gilt für die Fasnacht: Chaos mit Vollkasko. Und für Weihnachten: Eskalation der Sentimentalität, danach wieder Steuererklärung und Team-Meetings. Keine Heuchelei, sondern geniale Überlebensstrategie. Wir erleben das Andere, ohne es ewig aushalten zu müssen.
Die soziale Amnes(t)ie
Während dieser Feste gilt eine besondere Art von Immunität. Der Nachbar, der sonst griesgrämig ist, darf plötzlich in Neonleggins grölen. Die Chefin, die streng wirkt, darf an der Weihnachtsfeier auf dem Tisch tanzen. Wir verzeihen uns und vergessen diese Ausbrüche, weil wir wissen: Das ist nicht «normal». Aber vielleicht ist genau dieser Ausnahmezustand das Normalste, was wir haben.
Das Training für den Alltag
Man könnte sagen: Diese Feste sind kein Luxus, mehr Trainingsform. Sie trainieren unsere Anpassungsfähigkeit. Sie üben uns darin, unsere Rollen zu wechseln, den Blickwinkel zu verändern, die Grenzen zwischen Nicht-Ich und Ich durchlässig zu machen. Wer einmal als Clown durch die Stadt marschiert ist, wird am Montag im Meeting vielleicht lockerer reagieren. Wer einmal beim Kerzenschein still geworden ist, wird die Hektik draussen leichter ertragen.
Und so wichtig der Ausbruch ist, so wichtig ist die Rückkehr. Der Montagmorgen nach der Streetparade, der Aschermittwoch, der 27. Dezember: Das sind die wahren Prüfungen. Jetzt geht es darum, das Erlebte nicht wegzupacken wie eine Kostümkiste, sondern etwas davon mitzunehmen. Vielleicht nur eine Nuance, eine innere Lockerheit, die uns durch den nächsten Stau, den nächsten E-Mail-Sturm trägt.
Und nächstes Jahr wieder: The same procedure as every year
Wir wissen, dass wir es wieder tun werden. Wir werden uns erneut in Rollen werfen, die wir im Alltag nicht wagen. Wir werden tanzen, trinken, lachen, übertreiben. Wir werden uns in Absurditäten retten, um die Normalität zu überstehen. Die Feste sind unsere planmässige Revolte – und vielleicht die ehrlichste Form von Ordnung, die wir kennen.