Ich imaginiere, also bin ich: über Vorstellungskraft als Daseinsform

Cogito, ergo sum? Schön. Und was, wenn Denken nicht (mehr) reicht? Was, wenn unser eigentliches Sein, unser Kern, unsere einzigartige Positionierung sozusagen nicht im Denken, sondern im Imaginieren liegt? In jenem schöpferischen Akt also, der weit über das Gegebene hinausgeht? Dieser Text folgt der Spur der Vorstellungskraft – nicht als Flucht, sondern als Fundament unseres Menschseins.

Die Welt, wie ich, wie wir sie kennen, ist kein Ergebnis nüchterner Fakten, sondern imaginierter Ordnungen. Künstler:in unbekannt Fotografie: Daniel Frei

Die Welt, wie ich, wie wir sie kennen, ist kein Ergebnis nüchterner Fakten, sondern imaginierter Ordnungen. Künstler:in unbekannt Fotografie: Daniel Frei

Daniel Frei – Descartes sagte: Ich denke, also bin ich. Die Geburt des Möglichen. Er wollte damit beweisen, dass es wenigstens eine Gewissheit gibt, auf die man sich verlassen kann. Doch vielleicht war er zu bescheiden. Denn bevor wir denken, bevor wir argumentieren oder analysieren, tun wir etwas anderes: Wir stellen es uns vor. Nicht nur «wie es ist», sondern wie es sein könnte. Wir imaginieren uns eine Welt, die es (noch) nicht gibt, aber geben könnte. Diese Fähigkeit kommt nicht erst mit der Reife. Sie ist unsere erste Sprache.

Ein Kind tut das ganz selbstverständlich. Es verwandelt einen Ast in ein Schwert, eine Decke in ein Königreich. Kein Zweifel. Keine Rechenschaft. Nur Möglichkeit. Die Imagination ist die erste Form des Weltbezugs. Vor dem Wort, vor dem Ich, vor dem Wir. Sie braucht keine Logik. Keine Regeln. Kein Publikum. In der Imagination liegt kein Zweifel. Sie glaubt nicht, sie erschafft. Noch bevor wir lernen, richtig zu sprechen, konstruieren wir Realitäten. Und wir hören nie auf damit.

Die schöpferische Geste

Unsere Vorstellungskraft ist kein Ornament. Kein Kinderspiel. Kein Luxus. Sie ist das, was uns aus dem Tierreich herauskatapultiert hat. Sie ist das Werkzeug hinter allen Werkzeugen. Bevor wir Werkzeuge bauen konnten, mussten wir sie uns vorstellen. Bevor wir Götter verehrten, mussten wir sie uns vorstellen. Bevor es Nationen, Märkte, Rechte oder Zukunftspläne gab, waren sie: Fiktionen. Gedankenbilder. Möglichkeitsräume. Potenzielle Zukünfte.

Die Welt, wie ich, wie wir sie kennen, ist kein Ergebnis nüchterner Fakten, sondern imaginierter Ordnungen. Der Mensch ist kein rationales Tier, sondern ein narrativ schöpfendes, emotionales Wesen. Wir sind nicht nur Beobachter des Wirklichen, sondern Architekten des Möglichen. Unsere grossen Kathedralen und unsere tiefsten Ängste: Beide entspringen der Fähigkeit, etwas zu sehen, das (noch) nicht da ist. Überall, wo wir Form geben, ob in Stein, in Klang, in Code oder in Konzept: Alles beginnt mit einer inneren Skizze.

Imagination, nicht Flucht

Vorstellungskraft: Sie ist nicht das Gegenteil von Realität. Sondern von Resignation. Zynische Menschen sagen: Es ist, wie es ist. Realistische: Wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben. Fantasierende aber fragen: Was, wenn alles anders wäre? Und genau diese Fantasterei ist es, die Dinge bewegt. Nur wer sich etwas vorstellen kann, kann auch dahin wirken. Und nicht jede Flucht ist eine Flucht. Manchmal ist sie ein Aufbruch. Imagination heisst nicht, der Welt zu entfliehen. Sondern sie in ihrer Tiefe zu erfassen und in ihrer Form zu hinterfragen.

Revolutionen, Erfindungen, Transformationen: zuerst ein imaginativer Akt. Wer den Status quo überwindet, überschreitet zuerst innere Bilder. Es ist eine Bewegung gegen die Endgültigkeit. Gegen das «Alternativlose» und gegen das «so haben wir es immer gemacht». Die Vorstellungskraft befreit uns von der Illusion, dass es nur eine Wirklichkeit gibt, wenn es doch unendlich viele gibt.

Die Ethik der Vorstellungskraft

Imaginieren ist nicht neutral. Es ist ein Akt mit Konsequenzen. Wer sich Welten ausdenkt, beeinflusst die Welt. Wer Angstfantasien nährt, erzeugt Dystopien. Wer neue Möglichkeitsräume schafft, eröffnet Wege. Die Vorstellungskraft schafft nicht nur neue Wege. Auch neue Fragen. Neue Beziehungen. Neue Probleme. Und genau deshalb braucht sie eine Ethik. Nicht als Einschränkung, sondern als Bewusstsein. Wer sich etwas ausdenkt, trägt Verantwortung für die Schatten, die seine Bilder werfen.

Was wir fühlen, wie wir lieben, wen wir fürchten – all das wird geformt durch unsere inneren Bilder. Unsere inneren Landkarten. Imaginieren heisst nicht nur träumen. Es heisst: Mitgestalten, Verantwortung tragen. Mit jedem inneren Bild beeinflussen wir, wohin sich Menschen, Märkte, Mächte bewegen. Das gilt politisch, wirtschaftlich – und zutiefst persönlich. Wer sich selbst eine neue Rolle vorstellt, beginnt, sie zu leben.

Realität ist eine Frage der Tiefe

Viele glauben, meinen, denken: Realität ist das, was man anfassen kann. Ein Missverständnis. Das Anfassbare ist nur die Kruste. Die Tiefe entsteht durch Bedeutung. Und Bedeutung ist ein imaginierter Zusammenhang. Wenn ich jemanden liebe, liebe ich nicht den Körper allein, sondern das Bild, das ich in ihm sehe, ihm gebe. Eine Geschichte, die ich erzähle. Wenn ich an etwas glaube, glaube ich nicht an Fakten, sondern an (m)eine Erklärung, die mir sagt, warum das Ganze Sinn stiftet. Realität ist keine feste Grösse. Sie ist ein Beziehungsraum zwischen Welt und Vorstellung. Je tiefer wir schauen, desto imaginativer werden unsere Antworten.

Die radikale Kraft des Imaginierens

Es ist kein Zufall, dass die autoritären dieser Welt Fantasie fürchten. Sie wollen Ordnung, nicht Möglichkeitsräume. Regeln – nicht Geschichten. Wer sich eine andere Welt vorstellt, ist gefährlich. Vorstellungskraft ist subversiv. Sie ist ein Aufstand des Inneren gegen das Gegebene. Und sie ist unser stärkstes Mittel gegen Stillstand, Anpassung, Kapitulation. Sie untergräbt die Macht des Faktischen. Und sie gibt uns die Sprache zurück, die uns die Mächtigen wollen genommen haben. Wer imaginiert, entreisst der Welt ihre Selbstverständlichkeit. Und genau das ist der Anfang jeder Freiheit.

Ich imaginiere, also bin ich

Vielleicht war Descartes zu früh zufrieden. Denn der Satz «Ich denke, also bin ich» erkennt das Sein – aber verwechselt das Leben mit einem Beweis. Wir brauchen keinen Beweis. Wir brauchen eine Bewegung. Und die beginnt nicht mit dem Denken. Sondern mit dem Bild. Mit dem ersten inneren Flügelschlag. Mit dem Satz: Was, wenn …? Dort beginnt alles. Dort bin ich. Wir sind nicht, was wir denken. Wir sind, was wir uns vorstellen können.