Take it or leave it: Narzissmus in Organisationen ist kein Fehler, sondern System

Narzissmus in Unternehmen ist kein Ausnahmefall, er ist das System. Narzisstinn:en prägen Führungsstrukturen, Unternehmenskulturen und ganze Branchen weit über Einzelfälle hinaus. Sie liefern Resultate, glänzen in Krisen und dominieren Teams. Mit einem hohen Preis für das Umfeld. Warum narzisstische Persönlichkeiten nicht einfach das Problem sind, sondern tief verankerte Symptome einer leistungsorientierten Gesellschaft. Wie Organisationen Narzissmus dulden, fördern und selten eindämmen. Und warum ein Coaching oder Kulturwandel Narzisstinn:en kaum verändert, sondern nur das System selbst eine Wirkung entfalten kann. Ein Text für alle, die sich mit toxischer Führung, Selbstwertmangel (SLDD), Verantwortung in Organisationen und dem realen Umgang mit destruktiven Persönlichkeiten beschäftigen, liefert dieser Beitrag eine kompromisslose Antwort: Take it or leave it. Es gibt nichts dazwischen.

Daniel Frei – Narzisstinn:en sind kein Problem. Sie sind ein Prinzip. Sie sind nicht der Fehler im System. Sie sind das System. Das ist das Unangenehme. Und das ist das Entscheidende. Denn solange wir glauben, Narzisstinn:en seien Einzelfälle, schillernde, schwierige Persönlichkeiten, die vereinzelt für Unruhe sorgen, übersehen wir, dass sie schlicht die logische Konsequenz einer Kultur sind, die auf Konkurrenz, Wachstum und Aufmerksamkeit beruht. Die Bühne war längst gebaut, bevor Narzisstinn:en sie betraten. Und es steht auch immer schon ein neuer bereit, wenn der vorherige fällt.

Wir leben in einem System, das nicht nur Narzissmus zulässt, sondern ihn braucht.

Was Narzistinn:en mitbringen …

Narzisstische Persönlichkeiten haben Eigenschaften, die in unserer Wirtschaftswelt nicht nur erwünscht, sondern hochgradig profitabel sind: Sie sind fokussiert. Visionär. Radikal in ihrem Drang nach Vorwärtsbewegung. Empathielos, ja, aber dadurch auch entscheidungsstark. Sie können führen, ohne sich zu kümmern. Sie können glänzen, ohne zu zweifeln. Sie können verkaufen, ohne zu zögern.

Das sind Eigenschaften, die in der Gründungsphase eines Unternehmens, in Krisen, in Hochleistungssituationen enorme Vorteile bringen können. Sie schaffen Energie, ziehen Menschen an, entfalten Sog. Und sie liefern Resultate. Zahlen. Erfolge. Marktanteile.

Genau deshalb werden Narzissten eingestellt, befördert, geschützt. Nicht trotz ihrer Schatten, sondern wegen ihrer Strahlkraft. Organisationen dulden sie nicht. Sie bauen sich um sie herum.

… und was sie zerstören

Aber der Preis ist hoch und wird selten von der narzisstischen Person selbst bezahlt. Es ist das Umfeld, das leidet: die Teams, die auf Eierschalen gehen. Die Mitarbeitenden, die krank werden. Die Führungskräfte, die sich im Coaching wiederfinden, weil sie ihre Integrität nicht mit den Systemlogiken ihrer Organisation vereinbaren können.

Was Narzisstinn:en nicht können, ist Beziehung. Nicht im privaten, nicht im beruflichen. Ihr Denken ist zweckorientiert: «Was bringt mir das?», «Wie kann ich diese Person nutzen?», «Was muss ich tun, um das zu bekommen, was ich will?»

Der Mensch als Mittel, nicht als Gegenüber. Das Gespräch als Bühne, nicht als Begegnung. Die Organisation als Verlängerung des eigenen Egos. Das sind keine Ausrutscher. Das ist das Betriebssystem.

Das Gegenstück: SLDD

Was oft übersehen wird: Narzisstinn:en existieren nicht im luftleeren Raum. Sie brauchen ein Gegenstück. Eine Person, ein Team, ein System, das sie ermöglicht. In der Fachsprache nennt man das «Self-Love Deficit Disorder». Der Begriff, geprägt von Ross Rosenberg, bezeichnet ein psychisches Muster von Menschen, die sich selbst nicht genug lieben, um sich abzugrenzen. Die gefallen wollen. Helfen. Aushalten.

Die ironische Wahrheit ist: Narzissmus funktioniert nur, weil es Menschen gibt, die ihn ertragen. Die seine Energie aufnehmen und ihn damit noch stärker machen. Wer im Schatten eines Narzissten lebt, lebt häufig auch in der Hoffnung, ihn irgendwann zu erreichen. Ihn zu «heilen». Gesehen zu werden.

Eine Illusion. Narzisstinn:en wollen nicht gesehen werden. Sie wollen bewundert werden. Das ist ein Unterschied. Und er ist nicht zu überbrücken.

Warum man Narzisstinn:en nicht verändern kann

Die wichtigste Erkenntnis, die ich gewonnen habe: Man kann narzisstische Menschen nicht verändern.

Punkt.

Es gibt keinen Hebel, keinen Trick, kein Aha-Erlebnis, das sie zur Selbsterkenntnis führt. Keine Therapie, die aus Narzisstinn:en kooperative Personen macht. Kein Coaching, das Empathie erzeugt.

Die Veränderung passiert immer nur im System. In der Kultur. Im Rahmen. Wenn eine Organisation sich strukturell verändert, hin zu mehr Transparenz, mehr Kooperation, mehr Verantwortungsdiffusion und offener Kommunikation, dann werden Narzisstinn:en früher oder später gehen. Nicht freiwillig, aber konsequent.

Sie werden sich nicht angepasst fühlen, sondern angegriffen. Und sie werden versuchen, das System zurückzuverformen. Gelingt ihnen das nicht, ziehen sie weiter. Denn ohne Bühne kein Glanz. Ohne Glanz kein Antrieb. Ohne Antrieb keine Narzisstinn:en.

Der Unterschied zwischen schwierig und destruktiv

Natürlich gibt es Abstufungen. Nicht jeder Mensch mit narzisstischen Tendenzen ist destruktiv. Viele sind einfach herausfordernd. Kompliziert. Unangenehm. Aber funktional. Solange es Grenzen gibt, solange Kritik möglich ist, solange das Gegenüber klar bleibt, ist ein Zusammenleben, ein Zusammenarbeiten denkbar. Aber diese Bedingungen sind selten gegeben. Und sie sind noch seltener auf Dauer zu halten.

Wenn Kritik nicht möglich ist, wenn alles, was man sagt, zurückkommt als Angriff, dann ist man im toxischen Bereich. Wenn Entscheidungen nicht mehr im Team getroffen werden, sondern im Alleingang. Wenn Misstrauen die Zusammenarbeit bestimmt. Wenn die Fluktuation steigt, die Krankheitstage zunehmen, und das Klima kippt, dann ist es zu spät.

Dann bleibt nur noch der radikale Schritt: entlassen. Und zwar nicht wegen der Person, sondern zum Schutz der Organisation.

Unternehmen haben eine Verantwortung. Und sie versagen.

Organisationen haben eine Sorgfaltspflicht. Nicht nur ihren Aktionärinn:en gegenüber. Sondern auch gegenüber den Menschen, die für sie arbeiten. Und gegenüber der Kultur, die sie schaffen, ob bewusst oder unbewusst.

Aber in der Praxis versagen sie oft.

Nicht aus Bosheit, sondern aus Bequemlichkeit. Oder Angst. Oder, weil die narzisstischen Performer eben doch Resultate liefern. Solange die Zahlen stimmen, wird geschwiegen. Erst wenn der öffentliche Druck zu gross wird, etwa bei einem Skandal, einem Übergriff, einem Absturz, kommt Bewegung ins Spiel. Dann braucht es einen Sündenbock. Dann wird ein Exempel statuiert. Dann geht die Geschichte weiter. Mit den nächsten Narzisstinn:en.

Was getan werden müsste und kaum je getan wird

Eine gesunde Organisation müsste frühzeitig erkennen, wer sich wie verhält. Nicht mit Diagnosen, sondern mit klarer Beobachtung: Wie geht diese Person mit Kritik um? Wie fällt sie Entscheidungen? Wie behandelt sie andere? Wie viel Raum nimmt sie sich? Wie sehr kontrolliert sie den Fluss der Kommunikation?

Und dann müsste sie handeln: BoBonussystemeberdenken. Gesprächskultur fördern. Offene Feedbackprozesse installieren. Klare Grenzen setzen. Und vor allem: den Mut aufbringen, sich auch von erfolgreichen, aber destruktiven Kräften zu trennen. Nicht als Strafe. Sondern als Selbstschutz.

Take it or leave it: auch für Betroffene

Für die Mitarbeitenden im Umfeld von Narzisstinn:en gilt das Gleiche wie für das System: Es gibt keine halbe Lösung. Wer bleiben will, muss sich anpassen und damit sich selbst in gewisser Hinsicht verraten. Wer bei sich bleiben will, muss gehen. Oder daran kaputtgehen.

Viele brauchen Jahre, um das zu erkennen. Die meisten hoffen zu lange. Kämpfen zu lange. Leiden zu lange. Und wenn sie gehen, tragen sie oft Wunden davon, die sich nur langsam heilen. Aber in jedem Fall ist der erste Schritt immer derselbe: zu erkennen, dass man in einem System lebt, das nicht sich ändern wird, sondern einen selbst ändern will.

Wer da rauskommt, hat nicht verloren. Er hat sich befreit.

Nicht der Narzisst ist das Problem. Sondern unser Umgang mit ihm.

Narzissmus ist keine Abweichung. Er ist eine Überzeichnung. Er ist die dunkle Konsequenz einer Kultur, die Leistung über Mensch stellt, Macht über Beziehung, Glanz über Inhalt. Solange wir das nicht ändern, wird der Narzisst bleiben. Nicht trotz uns. Sondern wegen uns.

Und deshalb bleibt am Ende nur ein Satz: Take it or leave it.

Es gibt nichts dazwischen.